Man hat sein Talent mit Proust verglichen und seiner Prosa eine aufwühlende, ja, unwiderstehliche Kraft bescheinigt. Die Rezensenten in Italien und vor allem im heimatlichen Skandinavien geraten schier außer sich, wenn sie über Karl Ove Knausgard und sein sechsbändiges Romanprojekt sprechen. Was ist das Besondere an diesem Unternehmen?
Der 43-jährige Norweger präsentiert sein eigenes Leben als Sujet eines Mammutprojekts. Nun könnte man denken, dass seine Biographie möglicherweise mit Abenteuern jeglicher Art gespickt sei. Weit gefehlt. Der erste Band mit dem scheinbar lakonischen Titel „Sterben“ eröffnet jetzt bei Luchterhand den Reigen. Der erste Satz klingt programmatisch: „Für das Herz ist das Leben einfach: Es schlägt, solange es kann.“ Eine Feststellung, die darauf verweist, dass unser Herz zwar kampfbereit die Herausforderung mit dem Leben aufnimmt, aber auch wie ein Motor funktioniert, der irgendwann einfach zu schlagen aufhört. Der Tod ist halt dramatisch und unerklärlich zugleich, wissenschaftlich ist er nicht mehr als ein Fakt. Und so kommt Knausgard zunächst auch scheinbar abgebrüht daher, bevor er im zweiten Teil beschreibt, wie sich er und sein Bruder mit dem chaotischen Nachlass seines Vaters abplagen.
Knausgard spricht über die Veränderungen, die sich im Körper vollziehen, nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hat. Und fast unbemerkt gleitet er über in Beobachtungen und Erinnerungen aus seine Kindheit, der Jugend, dem ersten Sex, der ersten Liebe, dem ersten Kind... . Was hat das mit dem „Sterben“ zu tun? Zunächst nichts, aber im zweiten Moment spürt man das Pochen des Herzschlags in dieser Prosa. Es verweist auch auf die Anwesenheit des Todes, alles verschwindet, jeder Kuss, jede Ungeschicklichkeit, jede Verletzung, nichts ist mehr zurückzuholen.
Dieser vorandrängende Ton in Knausgards Erzählstimme treibt einen dort voran, wo oftmals gar nichts geschieht. Die Realität unseres Lebens rundet sich nur für Momente in Anekdoten, Episoden oder Kurzgeschichten, im Grunde stellt sich der Alltag eher als breiter, ruhiger Fluss dar. Leben ist nicht Kunst, es geschieht und ist nicht auf den doppelten Boden einer ästhetischen Konstruktion angelegt. Ein Problem, dass den Romancier Knausgard in eine Zwickmühle bringt. Seine Methode verwehrt ihm die kalkulierte dramatische Zuspitzung eines Geschehens, andererseits setzt sich Erzähltes der Gefahr der Belanglosigkeit aus, wenn es nicht auf Bedeutung hin organisiert ist.
Ein Problem für Knausgard und die Leser, da erzählt der Norweger seitenlang über eine Begegnung mit seinem Vater, ohne dass diese auf eine Pointe zulaufen würde. Oder er beschreibt uns Stockholm auf Spaziergängen, ohne dass die Beobachtungen zu irgendetwas führen würden. So ist das Leben, aber die Literatur verflacht in solchen Momenten. Letztlich bleibt der Roman ein geteiltes Vergnügen, dahinplätscherndes Räsonieren wechselt mit Passagen, die durchaus Intensität besitzen. Aber vielleicht ist das ja auch ein Teil von Knausgards Realismusbegriff, denn im Leben geht es uns ja auch nicht anders.
Karl Ove Knausgard liest aus seinem Roman „Sterben“ (Deutsch von Paul Berf, Luchterhand Literaturverlag, 576 S., 22,99 €) am 20. Juni in Münster im Historischen Rathaus, am 21. Juni in Köln im Literaturhaus, und am 22. Juni im buchLaden 46 in Bonn.
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