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Mit Schirm, aber ohne Scham und Melone-neulich an der S-Bahn

Mai des Herbstes

30. September 2010

Sebastian 23 zählt an: Eins - die Video-Kolumne - Poetry 10/10

Der Kalender sagt Oktober, und wir nicken. Der Herbst klopft mit kalten Fingern an die Türen, während wir drinnen noch nicht mal damit fertig sind, unseren gefühlten 2.000 Urlaubsfotos bessere Namen zu geben als „dscn555311.jpg“.

Wie wäre es mit „Ich-am-Strand-555311.jpg“?





Und dann speichern wir die Urlaubsbilder auf unserer externen Festplatte und legen diese neben die Dias vom Griechenland-Urlaub 1985, in die alte Kiste im Waschkeller, damit wir etwas haben, worüber wir uns bei Hochwasser ärgern können. Aber jetzt gilt es, keine Zeit zu verlieren, denn es herbstet! Draußen fallen schon die ersten Kastanien scheppernd auf Rentnerköpfe. Aber so ist er halt, der Herbst, schmeißt mit Regen nach den Schirmen und mit Farben nach den Blättern in den Wäldern.

Die in Heidelberg ansässige Rhein-Neckar-Zeitung ist z. B. ein solches Blatt im Wald. Und darin fand sich unlängst die Schlagzeile „Der Mai des Herbstes wirft seinen Schatten voraus“. Gemeint war der September, der sich geschmeichelt gefühlt haben dürfte, als er das gelesen hat. Und der Oktober erst, der ja damit automatisch zum Juni des Herbstes wurde. Auch den Dezember wird freuen, dass er künftig, weiter gedacht, der August des Herbstes ist.

Wenn man allerdings den Gedanken konsequent zu Ende führt, dann ist der Mai also ab sofort der Januar des Herbstes. Zumindest in den Redaktionsräumen der Rhein-Neckar-Zeitung, dort im schönen Heidelberg, wo die amerikanischen Touristen sanft an den Postkartenständern drehen und ein Brücken-Bronzeaffe berühmter ist als die vier Bürgermeister zusammen. Und das, obwohl einer der Bürgermeister Jo Gerner heißt, genau wie der Erzbösewicht aus „Gute Zeiten, Schlechte Zeiten“. Ich weiß, ich schweife ab wie ein Shetland-Pony, und diese Informationen sind sehr weit hergeholt (326 Kilometer). Aber ich mach mir halt meine Gedanken.

Und im Herbst hat man viel Zeit, sich mal Gedanken zu machen und melancholisch aus dem S-Bahn-Fenster raus auf ein längst stillgelegtes Kirmes-Gelände zu gucken. Eine Aussicht, die man viel zu selten hat: ein rostiges Kettenkarussell, auf dem gelangweilte Wiesel sitzen, ein Zuckerwatte-Stand mit Efeu überwuchert, eine kleine Bühne mit morschen Brettern, die nichts mehr bedeuten. Nur im Zelt der Wahrsagerin sitzt noch eine hutzelige Alte, die ihr eigenes Glasauge als Kristallkugel benutzt und mürbe geworden die Lotto-Zahlen von morgen murmelt.

Leider sieht man dergleichen viel zu selten, wenn man aus dem S-Bahn-Fenster schaut. Das Spektakulärste, was ich mal gesehen habe, aus dem Fenster der S1 heraus, war ein nackter Mann am Bahndamm.

Ein sehr effektiver Exhibitionist, dachte ich damals.

Immerhin ging das Raunen ob seiner Entblößung durch die komplette vollbesetzte Bahn.

Das war vor etwa zwei Jahren, und ich hatte die Geschichte mittlerweile vergessen, aber neulich sprang der Mann wieder in mein Auge. Oder, viel besser gesagt, ein Bericht, der vermutlich von ihm handelte. Darin hieß es, in der Nähe von Solingen sei ein Mann gefasst worden, der nackt auf den Gleisen unterwegs war. Er gab an, dort öfter mal nackt spazieren zu gehen, zur Entspannung, wie er sagte.

Wenn Yoga, Meditation, Fango-Packungen, Pilates und Fernsehen nicht mehr helfen – einfach mal zur Entspannung am Bahndamm nackt rumrennen. Der neue Trend aus der Relax-Branche: Nude Trainspotting. Das klingt doch gut. Ich finde, der nackte Mann hat nicht nur einen Knall, sondern durchaus auch einen Punkt.
Auch mal probieren: Nordic Stalking. Nicht einfach nur mit Stöckchen rumlaufen, sondern im Laufschritt wahllos fremde Leute verfolgen. Entspannt und befreit. Und ist im Allgemeinen gut für das Hautbild. Mein Tipp: Wenn beide ein Pulsmessgerät tragen, macht es doppelt Spaß.

Denn es ist Herbst, aber das ist kein Grund, nicht mal aktiv zu werden. Immerhin ist der Herbst der Sommer des Winters, wenn man mal heidelbergisch denkt. Und es hilft ja nicht, sich in die Monotonie zu legen, sich die graue Wolkendecke bis über beide Ohren zu ziehen und auf den Frühling zu warten. Vor allem nicht, weil ich nach den Frost-Erfahrungen im letzten Winter damit rechne, dass ab diesem Jahr nicht nur sibirische Wölfe und finnische Elche nach Deutschland zurückkehren. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ab Mitte Dezember erste Eisbären den Skagerrak überqueren, Dänemark leerfressen und spätestens zu Silvester die Grenzen des Ruhrgebiets erreichen.

Aber keine Angst, hier wird es ihnen dann zu kalt sein, und sie kehren zurück zum Nordpol.

Von daher möchte ich keine Beschwerden über die eine oder andere kühle Oktober-Brise hören. Geht zu ihr und lasst euren Drachen steigen, wie man tief im Osten zu singen pflegte. Vielleicht fangt ihr euch ja einen Tiefflieger oder einen Blitz. Und wenn das nicht hilft, entspannt euch auf die Solinger Art oder entwerft einen Heidelberger Kalender.

Ich mache mir den Herbst jedenfalls zu einem Abenteuer und stelle am 31.10. einfach die Uhr eine Stunde vor statt zurück. Dann gucke ich mal, was passiert. Und vor allem: Wann?

Sebastian 23
Foto: M. Stich
Sebastian 23, in den 80ern von 2 Fernsehern großgezogen, in Freiburg Philosophie studiert, reiht in Bochum berufsmäßig Buchstaben aneinander und lebt in seiner Freizeit. Hält sich gern in der Nähe von Fernverkehrszügen auf und war schon mal im Fernseher und im Keller.



Sebastian 23

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