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Globalisierung bringt nicht automatisch mehr Zusammenhalt
Foto: Theresa Löw

„Die Lage ist katastrophal“

25. August 2016

Johannes Posth über die Krise mit dem Bruder im Osten – Thema 09/16 Brüderlichkeit

engels: Herr Posth, Sie haben lange in Russland gelebt und gearbeitet. Wie tickt eigentlich dieser Wladimir Putin?
Johannes Posth: Wie ein kluger, gewitzter, gewiefter Machthaber, der einen Staat zu leiten hat. Das ist eine besonders schwierige Aufgabe in diesen Jahren. Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. Was rüberkommt, ist eine andere Frage: Diktator; der, der die Sowjetunion wieder herstellen will – nein, er ist natürlich darauf bedacht, seine Macht zu erhalten, wie es im Grunde alle Spitzenpolitiker auf der Welt machen. Er unterscheidet sich insofern vom Ansatz her nicht von anderen. Russland ist zudem kein demokratisch gewachsener Staat, da sind wir vielleicht sogar ein Jahrhundert voraus. Die Auswirkungen des Zarenreichs sind heute noch zu spüren.

Vermuten Teile der westlichen Medien beim Bruder im Osten auch heute noch Potemkinsche Dörfer und berichten deshalb anders als über andere Länder?

Johannes Posth
Foto: Presse

ZUR PERSON: Johannes Posth (73) hat 25 Jahre als Anwalt, Berater und Regierungsbeauftragter in Russland und der Ukraine gearbeitet, unter anderem in der Deutschen Botschaft Moskau, für die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Deutsche Telekom und die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Er ist Mitbegründer des Deutsch-Ukrainischen Forums.


Ich habe große Zweifel, dass die Medien genau hingucken. Denn dazu gehört Empathie. Ich kann Vorgänge in Russland nicht so werten, wie sie in Berlin oder Paris passieren, sondern muss die Historie berücksichtigen. Wir haben auch lange gebraucht, bis wir einen gewissen Standard erreicht haben. Es ist keine Rechtfertigung, aber nach Jahren, in denen wir die Demokratie aufgebaut haben, wackelt es bei uns heute auch an einigen Stellen. Insofern gibt es das Manko, dass unsere Berichterstattung nur an der Oberfläche kratzt. Ich mache den Medien aber keinen Vorwurf, denn das Interesse an den Vorgängen in Russland oder in der Ukraine ist hier gar nicht vorhanden.

Stört es Sie, wenn sich in der Gesellschaft eine Meinung über Russland bildet, die mit der Realität vielleicht nichts zu tun hat?
Natürlich stört mich das, und es müsste etwas unternommen werden, damit sich das bessert. Das versuche ich ja. Ich bin eigentlich 2013 nach Deutschland zurückgekommen, weil ich etwas anderes machen wollte, als mich weiter mit dem vielleicht interessantesten Abschnitt meines Lebens zu befassen. Dann holt mich durch den Ukraine-Konflikt die ganze Sache ein und ich bindie ganze Zeitin Berlin auf Konferenzen und Veranstaltungen zum Thema unterwegs. Es ist schon ermüdend. Doch ein Kollege hat mir ermunternd gesagt, „Herr Posth, wir dürfen nicht aufgeben“ (lacht).

Stichwort Ukraine-Konflikt. Ist die Angst der ehemaligen Sowjetstaaten vor weiteren russischen Übergriffen berechtigt oder ist das Taktik vom „gewieften“ Herrn Putin?
Ja und Nein. In Putins Machtkalkül ist sowas durchaus enthalten. Das kann ich mir jedenfalls vorstellen. Sanktionen würden ihn aber auch nicht davon abhalten. Warum nicht? Weil wir ihn ja schon vor uns hertreiben. Die Ukraine war die Grenzüberschreitung. Aber es hat genügend Hinweise vonseiten Putin gegeben – zum Beispiel die Rede im Deutschen Bundestag vor 15 Jahren oder auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007. Putin hat damals nicht nur um Zusammenarbeit vorgeschlagen oder darum gebeten, er hat geradezu gebettelt.

Sie sprechen damit die NATO-Osterweiterung an, die Putin in die Enge getrieben haben soll.
Richtig. Genscher hat seinerzeit gesagt, dass man übereingekommen sei, die NATO nicht einmal auf die ehemalige DDR zu erweitern. Das war 1989. Putin wird doch eigentlich als Westler eingestuft, auch innerhalb des russischen Machtapparats, der ein diffiziles Konglomerat ist. Wir haben ihn durch unsere Politik gezwungen, nach Ausreden zu suchen. Deshalb ist die Furcht der baltischen Staaten natürlich da.Sie leiden an einem Trauma, an dem auch wir Deutschen vor vielen Jahrzehnten beteiligt waren. Als die Staaten selbstständig werden konnten, habe ich in Moskau gesagt, dass mich die nationalistischen Töne und die schlechte Behandlung der Russen in Litauen, Lettland und Estland gestört haben.

Hat sich damals der Fokus der Menschen geändert?
Ich kann verstehen, dass die Russen nicht zurückkehren wollten. Sie wollten dort bleiben, wo sie besser leben können. Und das können sie im Prinzip in den baltischen Staaten. Aber wenn man sie bedrängt hat, ihnen kein Wahlrecht gegeben oder ihnen ihre Sprache genommen hat – wo sollen sie sich dann hin orientieren? Dann wenden sie sich natürlich Russland zu. Es gibt eine wichtige Sache zu verstehen für Westler – waren Sie schon einmal in Russland?

Bisher noch nicht.
Dann sage ich es Ihnen mal. Für die Russen im Baltikum gilt das gleiche wie für die Russen in der Ukraine. Für sie bedeutet eine staatliche Vereinigung mit Russland eine Rückkehr in die Sowjetunion. Das wollen die eigentlich nicht. Die sind froh, raus zu sein. Deshalb wäre es eine kluge Politik, die Russen nicht zu bedrängen und die Gegensätze nicht zu verschärfen. Die Staaten haben ja keine Chance. Wenn Putin das will, existieren die baltischen Staaten in anderthalb Tagen nicht mehr. Das ist grob gesagt, militärisch aber richtig. Putin will das aber gar nicht – er will ja nicht mal die Ostukraine haben.

Fehlt bei diesen ganzen kleinteiligen Vorgängen nicht ein großer Fahrplan in den Gesprächen zwischen Ost und West?
Das sprechen Sie etwas gelassen aus. Die Lage ist katastrophal. Was mich irritiert ist, dass ich nicht weiß, was wir für eine Strategie gegenüber Russland haben. Ich habe einerseits gehört, dass hochrangige Beamte im diplomatischen Dienst gar nicht dazu kommen, Strategien zu entwickeln, weil sie zu viel mit aktuellem Krisenmanagement beschäftigt sind. Dass die andere Seite zu oft gelogen habe. Oder dass Putin erstmal liefern müsse. Mir hat es die Sprache verschlagen. Natürlich kann man kurzfristig mit einer Krise beschäftigt sein – aber gerade dann muss ich doch eine Strategie über den Tag hinaus haben. Und das andere: Die Kunst der Diplomatie besteht doch gerade darin, eine Vertrauensbasis zu schaffen, um einen dauerhaften Ausgleich zu schaffen.

Sonst richtet man sich dauerhaft in der Krise ein.
Natürlich. Das ist ja eine Bankrotterklärung ersten Grades.

Passt dazu, dass in der Welt von Teilen der Bevölkerung wieder nach „starken Männern“ gerufen wird? Dass bei diesen Menschen das Gefühl herrscht, nur durch Stärke durch Krisen zu kommen?
Starke Charaktere sind immer populär. Man sieht es ja an den USA. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Sprücheklopfer Trump die Mehrheit hinter sich bringt. Ich glaube auch nicht, dass er das absolute Unglück wäre, das hat man bei Reagan und De Gaulle in Bezug auf Algerien auch gedacht. So einer ist immer ein unbeschriebenes Blatt. Der Schlüssel ist doch, dass man Putin sicherheitspolitisch und wirtschaftlich eine gewisse Sicherheit geben muss. Solange wir nicht erkennen können, wie tief – entschuldigen Sie bitte, ich bin Berliner – wir selber mit in der Scheiße der Ukrainekrise sitzen, wird es keine neuen Denkansätze geben.

Ist die Gefahr von einem neuen Kalten Krieg oder gar einem Dritten Weltkrieg in den letzten zehn Jahren tatsächlich gestiegen?
Es bestand ja die Hoffnung, dass das eine beendete Phase sei. Seit wir in Richtung Osten vormarschiert sind ist die Gefahr gestiegen. Putin hat mal gesagt, dass er lieber die NATO-Flotte zu sich einlädt, als dass er von der NATO-Flotte auf die Krim eingeladen wird. Was wie ein blöder Witz klingt, war bitterer Ernst. Und wer das nicht versteht, der hat Putin und seine Politik nicht verstanden.

Ein Teil der Namen ist schon gefallen: Kann man sich einen runden Tisch mit Leuten wie Putin, Trump, Erdogan oder Johnson überhaupt vorstellen?
Der Streit zwischen Putin und Erdogan um das abgeschossene Flugzeug war nicht besonders hilfreich in der angespannten Situation im Nahen Osten. Ob Johnson eine große Rolle spielen wird, weiß ich nicht – für mich spielt Trump eine Rolle. Die Äußerungen, die Trump bisher in dieser Himmelsrichtung gemacht hat, haben mich nicht besonders erschrocken. Ich fand sie eher offen, und in Putins Interesse. Er hätte aus Gründen seiner Persönlichkeit eher die Chance, mit Putin einen Deal zu machen, als Hillary Clinton.

Das könnte zu einer skurrilen Situation führen. Charaktere, denen man einzeln nachsagt, Unruhestifter zu sein, träfen sich auf einem Level und fänden eher zueinander als mit jemandem, der dieses Bewusstsein des Machtmenschen nicht teilt.
Ja, es ist leider so. Ich habe auch damals große Hoffnungen auf Obama gesetzt. Es hat aber nicht besonders erfreulich geendet. Obama war eine tragische Figur. Ein Beispiel: Vielleicht weil es zutraf, konnte man doch nicht sagen, dass Russland eine Mittelmacht sei – das kann man doch nicht machen, wenn man politisch erfolgreich sein will.

Welche Ansätze könnten aus Ihrer Sicht helfen, die Situation zu beruhigen?
Ich kann nur die Vorstufe dazunennen. Wir müssen im Westen unser Bewusstsein so entwickeln, dass die Bereitschaft für neue Denkansätze überhaupt gegeben ist. Das setzt voraus, dass wir unsere Situation erkennen. Dazu kommt, der anderen Seite ein sicherheits- und wirtschaftspolitisches Angebot zu machen, auf das sie eingehen kann. So kann nachhaltiges, gegenseitiges Vertrauen als Grundlage für friedliche und vorteilhafte gegenseitige Beziehungen geschaffen werden.

Was macht Ihnen Hoffnung?
Ich hoffe, dass ein US-amerikanischer Präsident wie Trump – wenn er es wird – eine gemeinsame Sprache mit Putin findet. Kanzlerin Merkel hat zudem einen bemerkenswerten Satz gesagt: „Es gibt Situationen, da denke ich manchmal, ob Putin nicht vielleicht doch recht hat“. Dass sie diese Größe hat, so etwas zu sagen – Hut ab. In Europa wüsste ich keinen, der das könnte.


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