Immerhin hat der mit Abstand berühmteste Sohn der Stadt ein epochales Werk geschrieben, das den schönen Titel zum „Zum ewigen Frieden“ trägt. Immanuel Kant: Seit 1992 steht mitten im Zentrum von Kaliningrad, dem einstigen Königsberg, wieder ein Denkmal für den wegweisenden Philosophen. Seit 2005 trägt sogar die städtische Universität seinen Namen.
Doch in letzter Zeit scheint man sich gerade rund um Kants Heimatstadt wieder weit von seinen Theorien zu entfernen, nach denen fortschreitende Gerechtigkeit und Vernunft Armeen zunehmend überflüssig machen. Die NATO-Militärpräsenz in Polen und im Baltikum wurde aufgestockt. Russische Militärmanöver und das Trauma aus Krimkrise und ukrainischem Bürgerkrieg beschwören alte Ängste aus Zeiten des Kalten Kriegs neu herauf. Glaubt man Scharfmachern auf beiden Seiten der Grenze, so ist eine Invasion des Gegners nur noch eine Frage der Zeit.
Dabei ist Kaliningrad, russische Exklave mitten in EU- und NATO-Gebiet, eigentlich prädestiniert dafür, eine Brücke zwischen den Kulturen zu sein. Und tatsächlich: Im Alltag der Menschen ist es das sogar. Während Russland und Polen in der großen Politik nicht erst seit gestern wenig freundlich miteinander umgehen, ist ausgerechnet die Grenze zwischen den beiden Ländern so durchlässig wie sonst nirgends zwischen Russland und der EU.
Seit vier Jahren dürfen alle Bewohner des Kaliningrader Gebiets die angrenzenden polnischen Regionen ohne Visum besuchen. Umgekehrt gilt das genauso für Polen, die in der Nähe der Grenze wohnen. Es ist ein lohnendes Angebot: Während in Russland der Liter Superbenzin kaum mehr als 50 Cent kostet, ist in Polen fast alles andere günstiger als in der russischen Exklave. Besonders EU-Lebensmittel, die seit den gegenseitigen Krim-Sanktionen Russlands und der EU nicht mehr nach Russland importiert werden dürfen, sind hier für die russischen Besucher wahre Schnäppchen.
Und so finden sich gleich hinter der Grenze riesige Einkaufszentren, die sich ganz auf die Bedürfnisse der Russen einstellen. Russische Speisekarten, russische Werbeschilder und sogar russisches Personal sind zum gewohnten Anblick geworden. Der russisch-polnische Grenzverkehr ist dabei Jobmotor und Völkerverständigung in einem: Während die Polen sich wundern, dass die russischen Einkaufstouristen das Klischee vom bösen Nachbarn so gar nicht erfüllen, sind die Russen wiederum erstaunt darüber, wie freundlich sie im Nachbarland empfangen werden.
Auch als Touristen sind die Russen aus Kaliningrad so willkommen, dass die polnischen Behörden ihnen weite Teile ihrer Ostseeküste geöffnet haben – viel mehr als die Formalien eines Kleinen Grenzverkehr eigentlich vorsehen. Und auch in die örtliche Popkultur hat der russische Einkaufstourismus schon Einzug gefunden: „Ich bin hinter Billigbier und Billigwurst her, willkommen Lidl“, singt die Kaliningrader Band Parovoz. Was Kant wohl dazu gesagt hätte?
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
www.d-u-forum.de | Deutsch-Ukrainisches Forum
www.deutsch-russisches-forum.de | Deutsch-Russisches Forum
www.hzldb.de | Wuppertaler Freimaurerloge Hermann zum Lande der Berge
www.bruderkette-wuppertal.de | Johannisloge der Bruderkette zu Wuppertal
Thema im Oktober FRAUENRECHT
Burkadebatte, Sexualstrafrecht und wer davon profitiert
Wo es bei der Gleichberechtigung noch hakt. Je nackter desto freier? Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Bruderkrieg
Russland und die Ukraine haben familiäre Probleme und tragen sie blutig aus – THEMA 09/16 BRÜDERLICHKEIT
„Die Lage ist katastrophal“
Johannes Posth über die Krise mit dem Bruder im Osten – Thema 09/16 Brüderlichkeit
Unter Brüdern
Seit 1815 treffen sich in Wuppertal die Freimaurer – Thema 09/16 Brüderlichkeit
Hört das Signal
Intro – Gesund und munter
Privatvergnügen
Teil 1: Leitartikel – Die Zweiklassenmedizin diskriminiert die Mehrheit der Gesellschaft
„Das Gesundheitssystem wird unter Druck geraten“
Teil 1: Interview – Arzt Bernhard Winter über den Vorwurf einer Zweiklassenmedizin
Verbunden für die Gesundheit
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertals Selbsthilfe-Kontaktstelle unterstützt Bürgerengagement
So ein Pech
Teil 2: Leitartikel – Opfer von Behandlungsfehlern werden alleine gelassen
„Der Arzt muss dieses Vertrauen würdigen“
Teil 2: Interview – Kommunikationswissenschaftlerin Annegret Hannawa über die Beziehung zwischen Arzt und Patient
Gesundheit ist Patientensache
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Patientenbeteiligung NRW in Köln
Heimat statt Pflegeheim
Teil 3: Leitartikel – Seniorengerechtes Bauen und Wohnen bleibt ein Problem
„Wo Regelmäßigkeit anfängt, sollte Nachbarschaftshilfe aufhören“
Teil 3: Interview – Architektin Ulrike Scherzer über Wohnen im Alter
Gemeinsam statt einsam
Teil 3: Lokale Initiativen – Wohnen für Senior:innen bei der Baugenossenschaft Bochum
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Wenn der Shareholder das Skalpell schwingt
… und der Patient zur Cashcow wird – Glosse
Einig im Treten
Intro – Arbeitskämpfe
Armut wählen
Teil 1: Leitartikel – Zur politischen Kultur Deutschlands
„Egal wer die Brandmauer zerstört, wir werden ihn kritisieren“
Teil 1: Interview – Omas gegen Rechts: Jutta Shaikh über die Verteidigung der Demokratie
Als Bürger wahrgenommen werden
Teil 1: Lokale Initiativen – Lernbehinderte in der KoKoBe erheben ihre politische Stimme.
Bloß der Wille fehlt
Teil 2: Leitartikel – Die Politik zulasten der Ärmsten gefährdet den sozialen Frieden
„Politik für das Gemeinwohl, nicht für Unternehmen“
Teil 2: Interview – Armutsforscher Christoph Butterwegge über die Umverteilung von Reichtum
Jetzt erst recht
Teil 2: Lokale Initiativen – Parents for Future in Köln
Peitsche namens KI
Teil 3: Leitartikel – Beschäftigte werden mit neuester Technologie massenhaft überwacht.
„KI streikt nicht“
Teil 3: Interview – Informatiker und Philosoph Jürgen Geuter über künstliche Intelligenz in der Arbeitswelt
Gegen digitalen Kolonialismus
Teil 3: Lokale Initiativen – Der Chaospott Essen klärt über Technik und Datenschutz auf