Kaum zu glauben, dass man das gewaltige Werk „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus ins Musiktheater übertragen kann. Der französische Komponist Philippe Manoury hat es gewagt: Gemeinsam mit dem Dramaturgen Patrick Hahn und dem Regisseur Nicolas Stemann, ab 2027 Intendant des Schauspielhauses Bochum, hat er das dramatische Panorama des Österreichers auf ein zwei Mal 70 Minuten dauerndes „Thinkspiel“ für 13 Sänger, zwei Schauspieler, Vokalensemble, Orchester und Live-Elektronik eingedampft. Beteiligt ist auch das 1977 von Pierre Boulez gegründete IRCAM (Institute for Research and Coordination in Acoustics/Music), das die vor allem für den zweiten Teil wichtige elektronische Live-Musik entwickelt.
„Die letzten Tage der Menschheit“, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs zwischen 1915 und 1919 von dem Wiener Sprachzauberer und Satiriker Karl Kraus geschrieben, ist die Tragödie einer Gesellschaft, die durch die Ignoranz des Alltäglichen, Kriegslust und Geldgier, Leichtsinn und Mangel an Empathie, Geschichtsvergessenheit und kurzatmigen Hedonismus in einen apokalyptischen Krieg schlittert. Kraus benutzt die derbe Sprache der Straße, den Slang des Militärs und den süffisanten Tonfall des Adels, um mit Wiener Sarkasmus in satirischer Distanz den Zerfall einer Gesellschaft zu schildern, den er in fantastischen, visionären Endzeitbildern aufgehen lässt: „Die grellsten Erfindungen sind Zitate“, schreibt Kraus dazu; er hat vieles verwendet, was er in alltäglichen Gesprächen aufgeschnappt hat.
Philippe Manoury gehört zu den profiliertesten Komponisten Frankreichs. 1952 geboren, studierte er computergestützte Komposition und trat 1980 dem IRCAM bei, wo er mit dem Mathematiker Miller Puckette an einer Programmiersprache für interaktive Live-Elektronik, heute bekannt unter dem Namen MAX-MSP, arbeitete. Für das Kölner Gürzenich-Orchester schuf Philippe Manoury zwischen 2013 und 2019 eine Trilogie: „Ring“, „In situ“ und „Lab.Oratorium.“ „Kein Licht“ für vier Sänger, Live-Elektronik und Instrumentalensemble entstand für die Ruhrtriennale 2017 und wurde in Duisburg uraufgeführt.
Hauptrollen im klassischen Sinn kennt Kraus‘ Drama nicht. Entsprechend agieren in Manourys Werk nur anonyme Personen. Lediglich der neu hinzuerfundene „Angelus novus“ ist eine kontinuierlich präsente Figur, angeregt von einem Gemälde von Paul Klee, das den Philosophen Walter Benjamin zur Figur des „Engels der Geschichte“ inspirierte. Manoury schildert ihn als „Bote, Zeuge und Wandernden Juden“. Hilflos wohnt er dem Untergang der Menschheit bei, die ihrem eigenen Zerstörungswahn verfällt. Anne Sofie von Otter singt diese Rolle; Peter Rundel leitet das Gürzenich-Orchester und das Ensemble.
Die letzten Tage der Menschheit | 27. (P), 29.6., 4., 6., 9.7. | Staatenhaus, Saal 1 | www.oper.koeln
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