
Vermiglio
Italien, Frankreich, Belgien 2024, Laufzeit: 119 Min., FSK 12
Regie: Maura Delpero
Darsteller: Tommaso Ragno, Giuseppe De Domenico, Roberta Rovelli
>> vermiglio.pifflmedien.de/
Bildgewaltiges Zeitporträt über das harte Landleben und patriarchale Strukturen
Weibliche Erfahrungswelten
„Vermiglio“ von Maura Delpero
„Epistolare“ schreibt Cesare an die Tafel. Er ist Lehrer in einem kleinen Dorf in den Trentiner Alpen und erklärt seinen Schüler:innen – darunter auch seine eigenen Kinder – die Bedeutung des schwierigen Wortes: Es beschreibt jegliche Art von Mitteilungen über Ereignisse oder Gefühle, sei es über Briefe, Postkarten oder die Zeichnung auf einem Zettel, wenn der Überbringer der Nachricht des Schreibens nicht mächtig ist. Da der Film im letzten Jahr vor Ende des 2. Weltkrieges spielt, sind die Reaktionen in der Klasse fast zwangsläufig: Die Kinder erzählen sofort von den angekommenen, aber auch von den sehnsüchtig erwarteten, nie angekommenen Nachrichten ihrer in den Krieg gezogenen Väter und Brüder.
Vier Jahreszeiten, vom Winter 1944 an, begleitet nun Maura Delpero in ihrem zweiten, autobiografisch gefärbten Spielfilm Cesare, seine Frau Adele und ihre acht Kinder durch ihr entbehrungsreiches Leben. Es beginnt jeden Morgen mit dem Anstellen der Familie am Küchenherd, um von der Mutter eine Tasse heißer Milch eingeschenkt zu bekommen: Die Kamera verweilt da nur in Großaufnahme auf den Bechern und Schalen, bis sich das Bild zu einer Halbtotalen öffnet und man die Personen hinter den Trinkgefäßen kennenlernt, die nun, eng um den Frühstückstisch sitzend, den Tag beginnen. Das Gedränge setzt sich jeden Abend fort, wenn sich die gerade erwachsene Lucia mit ihren 16 und 13 Jahre alten Schwestern Ada und Flavia ein Bett teilt und sie sich ihre geheimsten Wünsche und Sorgen anvertrauen: Ada befriedigt ihre feuchten Träume hinter dem Schrank, bestraft ihre sündige Lust mit dem Essen von Hühnerkot, Flavia traut sich nur nach heftigem Ringen mit sich selbst, ihren Eltern ihre erste Menstruation zu „gestehen“. Dabei ist Flavia eigentlich Vaters Liebling, der sie als einzige seiner Kinder auf eine weiterführende Schule schicken will. Seinem ältesten Sohn Dino verweigert er dagegen das Abschlusszeugnis, traut ihm nur eine Zukunft als Tagelöhner zu. Mutter Adele steht immer zwischen den Fronten. Als Pietro, ein sizilianischer Deserteur, im Dorf Unterschlupf findet und sich Lucia in ihn verliebt, gerät das fragile Familiengefüge in Unordnung. Denn nach Heirat und Kriegsende fährt Pietro in die Heimat, um seine Mutter zu besuchen, lässt die schwangere Lucia zu Hause. Schließlich muss die Familie erfahren, dass Pietro bereits eine Ehefrau in Sizilien hat, was eine Folge tragischer Ereignisse auslöst.
Es sind die atmosphärisch dichten, in grau-blauen Farbtönen gehaltenen Landschaftspanoramen und der emphatische Blick von Michail Kritschmans Kamera in die Gesichter, die uns die imposante Berglandschaft und die ambivalenten Gefühle der Protagonist:innen erfahrbar werden lassen. Und natürlich Maura Delperos respektvoller Umgang mit ihren liebevoll gezeichneten Figuren, die sie niemals vorführt, selbst ihren Schwächen mit Menschlichkeit begegnet. „Vermiglio“ wirkt in seiner humanistischen Grundhaltung und inszenatorischen Kraft ein wenig wie die frühen Filme des italienischen Neorealismus – nur das hier Farbe in die Bilder eingekehrt ist.
(Rolf-Ruediger Hamacher )

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