Jeder Mensch werde einst für fünfzehn Minuten weltberühmt sein, prophezeite Andy Warhol in den späten 60ern. Tatsächlich erlauben es digitale Medien heute grundsätzlich Milliarden Menschen, ein weltweites Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Nicht wenigen gelingt das – nicht für karge fünfzehn Minuten, sondern dauerhaft, mit regelmäßigen Videos oder Fotos, in deren Mittelpunkt meist sie selbst stehen. Die Spitzen der Aufmerksamkeit sind hier nicht gebunden an hohe Ideale von Talent, Relevanz oder Form, eher widerstreiten sie diesen – was nicht neu ist: Kultur war und bleibt auch eine Frage von Geschmack und Geschmacklosigkeit, Wissen und Unwissen – und vom Streit darüber, wo die Grenzen verlaufen; der heute auch ein Streit über Algorithmen ist. Andererseits ist es großartig, dass in neuen digitalen Formaten auch wertvolle Kritik oder Erfahrungen zur Sprache kommen, die sonst kaum ein Publikum finden oder sogar unterdrückt würden. Wie prägt dieser Wandel die Medienlandschaft, die Gesellschaft und unser Menschenbild?
Diesen Fragen gehen wir im Monatsthema ICH STREAME, ALSO BIN ICH nach. Unsere Leitartikel appellieren, verantwortungsvoll mit den Freiheiten im Netz umzugehen, verfolgen, wie die gesellschaftliche Linke lernt, digitale Räume zu nutzen und suchen Auswege aus einer digital verstärkten Unmündigkeit.
In unseren Interviews schlägt der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch einen Weg vor, wie der Journalismus in der neuen Medienlandschaft überleben kann, der Podcaster Wolfgang M. Schmitt rät, der gesellschaftlichen Macht von Influencern aufklärerische Formate entgegenzusetzen und die Psychologin Cornelia Sindermann erklärt, was es mit Filterblasen und Echokammern eigentlich auf sich hat.
Wir erfahren in Köln bei der Ortsgruppe des Chaos Computer Club, wie der Club seine gesellschaftliche Rolle versteht, in Dortmund beim Medienpädagogen Daniel Schlep, wie sehr es landesweit in öffentlichen Einrichtungen an Kompetenz für digitale Medien mangelt und in Wuppertal, wie das Bildungsprojekt Fight for Democracy zum souveränen Umgang mit Desinformation beiträgt.
Die erwähnten Influencer haben bekanntlich dem Beruf des Vertreters zu unverhofftem Ansehen verholfen. Musste der sich zuvor beispielsweise mitsamt Musterkoffer um jedes Haustürgeschäft einzeln bemühen, gewahr, dass kritische Geister ihm Werbelügen unterstellen, laden Influencer heute ein Millionenpublikum virtuell in ihr Zuhause ein. Hier inszenieren sie die eigenen Leben als vertrauenswürdige Werbeflächen, um ihre Waren, oder die ihrer Auftraggeber, unters Volk zu bringen. Wer sich daran stößt, kann doch froh sein: Man weiß ja, wo die Gefahr lauert – einfach nicht einschalten! War ja auch niemand gezwungen, den Vertreter hereinzubitten. Noch besser: Stattdessen etwas Gutes einschalten. Oder aufschlagen. Bücher, zum Beispiel, gibt's ja nach wie vor.
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