Eisenbahn statt Postkutsche, Telegraphie statt Briefe, leuchtende Reklamen und dieBeschleunigung des Lebens:Die Epoche um 1900 stellte die Nerven der Menschen auf eine Zerreißprobe. Immer häufiger wurde – vor allem beim städtischen Bürgertum – Neurasthenie diagnostiziert. Die durch eine Überreizung hervorgerufene Nervenschwäche war die Modekrankheit des Fin de siècle.Für das Krankheitsbild wurden die „modernen“ Lebensbedingungen verantwortlich gemacht. Die Reaktion der Menschen: Rückzug in die Ruhe der eigenen vier Wände.
Heute verschafft selbst das keine Linderung. Denn auch im trauten Heim findet er dank Handy, Fernseher und Co. keine Entspannung. Und da wir tief drinnen die Urmenschen von vor zwei Millionen Jahren sind, kann unser Gehirn die einströmenden Reize nicht ausreichend verarbeiten. Wir sind ständig überreizt und in der Folge: gestresst.
Ein Sinnesorgan wurde um 1900 plötzlich besonders beansprucht: das Auge. Bewegte Bilder in Form von Stummfilmen, die vorbeirauschende Landschaft bei einer Fahrt mit der Eisenbahn, neu entstehende Flaniermeilen, bunte Werbeplakate – immer und überall gab es etwas zu sehen. Nach und nach geriet so ein Sinn in Vergessenheit: der Tastsinn. Während im Mittelalter Berührung, auch unter fremden Menschen, allgegenwärtig war, wurde seit Beginn der Moderne der sensorische Sinn als niederer Sinn abgetan: Zu viel Gefühl war Sache der Frauen und vor allem in Kriegszeiten nicht gefragt. Kinder wurden „mit harter Hand“ erzogen, sollten bloß nicht „verzärtelt“ werden.
Mittlerweile lässt uns Berührung oft unwohl fühlen, macht uns manchmal sogar Angst. Auch unter Liebespaaren ist gegenseitiges Streicheln selten geworden, selbst eine Umarmung kommt Untersuchungen zufolge höchstens alle paar Tage einmal vor.Über das Display unseres Smartphones streichen wir täglich wohl um ein Vielfaches häufiger als über den Kopf unseres Partners.
Dabei sind Berührungen – vor allem sanfte, wie Streicheln – für den menschlichen Organismus extrem wichtig. Sie sind ein Grundbedürfnis, so essentiell wie essen oder schlafen.Die Bedeutung des Tastsinns macht allein sein schieres Ausmaß deutlich: Mit rund zwei Quadratmetern ist die Haut unser größtes Sinnesorgan. Rund 900 Millionen Rezeptoren senden ständig Informationen an das Gehirn.Der Leipziger Haptik-Forscher Martin Grunwaldbestätigt: „Berührungen haben für Lebewesen einen Stellenwert wie die Luft zum Atmen“.
Dass dieses Bedürfnis trotzdem vernachlässigt wird, zeigen Umfragen, die eine große Sehnsucht der Deutschen nach mehr Berührung offenlegen. Auf die Frage, was sie glücklich mache, lautet die Antwort bei den meisten nämlich schlicht: eine Umarmung. Kein Wunder, wird dabei doch das „Kuschelhormon“ Oxytocin ausgeschüttet. Dieses kann unter anderem Stress und Angst reduzieren, Aggressionen dämpfen und die Paarbindung stärken. Paare, die sich häufiger umarmen, sind so nachweislich glücklicher.Zu wenig Berührung kann uns krank machen. Andersherum kann uns Berührung sogar heilen: Regelmäßige Umarmungen stärken das Immunsystem, machen uns weniger anfällig etwa für Erkältungsviren. Auchsozialen Phobien, Angststörungen oder Depressionen kann Berührung entgegenwirken. Krankheiten also, die in unserer reizüberfluteten Zeit immer häufiger werden.Und so treffen sich mittlerweile an vielen Orten in Deutschland wildfremde Menschen zu sogenannten „Kuschelpartys“. Zahlreiche Bücher und sogar Seminare gibt es seit den letzten Jahren zum Thema. Dabei ist es eigentlich so einfach: statt das Smartphone öfter mal den Partner (oder sich selbst) mit Streicheleinheiten bedenken.
Sinnesfreuden - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
hochsensibel.org | Große Plattform über Hochsensibilität. Mit einer langen Liste von Kontakten vor Ort.
einfach-hochsensibel.de/podcast-archiv | Podcast über Hochsensibilität mit inzwischen über 70 Folgen.
synaesthesie.org | Auftritt der Deutschen Synästhesie-Gesellschaft
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Von Sinnen
Intro – Sinnesfreuden
Vom Fluch zum Segen
Hochsensible treffen sich in Wuppertal
Lärmschutz durch kostenlosen Nahverkehr
Tallinn macht es mit einem Modellprojekt vor – Europa-Vorbild: Estland
Das „Expanded Universe“ der Sinneswahrnehmung
Mehr Freude dank mehr Sinnen
„Ich bin Farbenhörer“
Synästhetiker Matthias Waldeck über seine Wahrnehmung der Welt
Unterirdische Energiebilanz
Kleinbäuerliche Strukturen effizienter als Agro-Industrie – Teil 1: Leitartikel
Prima wohnen
Alternative Rohstoffe in der Baubranche – Teil 2: Leitartikel
Die deutsche Stadt trotzt der Zukunft
Politik schreckt vor nachhaltiger Infrastruktur zurück – Teil 3: Leitartikel
Klassenkampf von oben
Reiche und ihre politischen Vertreter gönnen den Armen nicht das Schwarze unter den Fingernägeln – Teil 1: Leitartikel
Angst und Unwissen
Ökonomische Bildung darf nicht mehr Mangelware sein – Teil 2: Leitartikel
Nachrichten als Krise
Medienfrust und der Vertrauensverlust des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Teil 3: Leitartikel
Redet mehr über Geld!
Ohne ökonomisches Wissen bleiben Bürger unmündig – Teil 1: Leitartikel
Spiel mit dem Feuer
Taiwan-Konflikt: Westliche Antidiplomatie riskiert Waffengang – Teil 2: Leitartikel
Glaubenskrieg
Politische Narration im bewaffneten Konflikt – Teil 3: Leitartikel
Grün allein macht keinen Klimaschutz
Zwischen Wirtschafts-Lobbyismus und Klima-Aktivisten: Grüne Politik vor der Zerreißprobe – Teil 1: Leitartikel
Macht’s gut und danke für all den Fisch
Behördlicher Artenschutz gegen wissenschaftliche Fakten – Teil 2: Leitartikel
Just in my Backyard!
Naturbewahrung in der Wohlstandswelt – Teil 3: Leitartikel
1 Drama in x Akten
Mit Ideen die Welt retten? – Teil 1: Leitartikel
Kommerz Alaaf!
Rebellische Anfänge, affirmative Gegenwart im Karneval – Teil 2: Leitartikel
Typisch Welt
Warum Kultur niemandem gehört – Teil 3: Leitartikel
Indigen statt intensiv
Die Nachhaltigkeitsfrage braucht mehr als industrielle Antworten – Teil 1: Leitartikel
Wer nichts weiß, muss alles schlucken
Gesunde Ernährung ist möglich – Teil 2: Leitartikel
Einfach besser essen
Regional, saisonal, bio – drei Wege zur gesunden Nahrung – Teil 3: Leitartikel
Menschliches Versagen
Das Für und Wider von Sicherheit – Teil 1: Leitartikel