Aktueller als man je hätte erwarten können: Immer wieder war bei der Wuppertaler Literaturbiennale diese Aussage zu hören, weil ihr diesjähriges Motto „Utopie Heimat“ hieß. Bezüge zum Heimatbegriff im Sinne gegenwärtiger Brennpunkte wie Flucht und neuer Nationalismus waren insgesamt aber nicht das Wesentliche. Schon mit dem vielschichtigen Motto gelang den Organisatoren um das engagierte Kulturbüro dennoch ein großer Wurf: Es bot ein Festival rund ums Schreiben und dessen Kraft, Welten zu beschwören.
Das klingt abstrakter und nicht mehr ganz so nah an Krieg und erzwungenem Auszug in die Fremde. Und wenn die Schriftstellerin Judith Kuckart in ihrer Laudatio auf die Biennale-Preisträger das Wort „Heimat“ umriss mit der Formel „Sesshaft werden in der Sehnsucht“: Dann trifft das sicher nicht das Verständnis all jener, die ihr Land ganz real verlassen mussten und sich in diesem Verlust kaum werden einrichten wollen. Aber: Schon das Wort „Biennale“ betont ja nicht den Gegenwartsbezug, sondern den Kunstcharakter (warum sonst sollte man ein Fest nach so etwas sonst Nichtssagendem wie dem Zweijahres-Turnus benennen?). Und so boten denn die zwölf Tage im Tal eine Fülle an Gelegenheiten, spannende literarische Erfindungen und Projektionen zu erleben.
Vielleicht am vertracktesten spielte das gleich zur Eröffnung Frank Witzel durch, als er im Barmer Bahnhof aus seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ las. Keine Sorge ob des etwas sperrigen Titels: Auch Länge kann heiter. Erfunden wird hier gleich auf mehreren Ebenen, nicht zuletzt durch den besagten Halbstarken: Auf der Suche nach Abgrenzung beweist der Junge eigenen Humor beim Nachspielen historischer Schlachten mit „Faller“-Figuren („die mit Koffer sind auf der Flucht“) und bastelt sich seine eigene Weltgeschichte. „Heimat ist auch eine Zeit“, sagt Witzel vorab.
Anders Norbert Scheuer bei seiner Lesung im Taltontheater unter der Überschrift „Unsere Heimat wird am Hindukusch erzählt“. Die Außensicht entsteht hier nicht aus Eskapismus, sondern schlicht durch die geografische Distanz: Der Vogelkundler Paul Arimond schaut als Sanitäter in Afghanistan auf sein fernes Eifeldorf – und dass dieses fiktiv ist, ist für Scheuer ein großer Vorzug gegenüber berühmten Autoren, die auch nie am Ort ihrer Abenteuer waren: „Karl May hatte nicht 'Kall/Eifel'.“ Und da ein Literaturfestival ja auch schön ist zum Kennenlernen verschiedener Autorentypen: Scheuer, kernig und mit Halblangfrisur, erzählt munter von seinen Recherchen bei Zoologen und Ex-Soldaten und wirkt dabei selbst ein wenig wie Reinhold Messner beim Plaudern über den Yeti.
Neben artifiziellen Spielen mit Metaebenen fehlte bei der Biennale aber auch der realistische Zugang nicht. Zuallererst und eigentlich kein bloßer Programmpunkt, weil alles andere als erfunden, gilt das für „In unserer Mitte“: In dem Projekt mit den Wuppertaler Bühnen haben syrische Geflohene über Monate Wuppertaler Schriftstellern um Hermann Schulz ihre oft grausamen Geschichten erzählt, die diese dann zu Texten formten – nun lasen Schauspieler im Theater daraus. Auf andere Weise basiert auf realen Schicksalen war aber auch ein Biennalen-Termin der klassischen Art: Jenny Erpenbeck, Trägerin des Thomas-Mann-Preises für ihr politisches Schreiben, berichtet, dass der Anlass für ihren Roman „Gehen, ging, gegangen“ 2013 die Katastrophe von Lampedusa war. Für die Geschichte eines alternden Zweiflers suchte (wie ihr Held) auch sie selbst das Gespräch mit Asylsuchenden in notdürftigen Berliner Unterkünften. Und was das Thema Erfinden betrifft, gab es von ihr denn auch ein klares Nein zur reinen Fiktion, zumindest dort, wo „besseres authentisches Material“ zu finden ist: „Das wäre für mich Kunsthandwerk.“ Meint wohl: Künstlich.
Mehr als Außenansicht gab es dann im „Sommerloch“ an der Bergstraße zu erleben: Der ukrainische Literat Serhij Zhadan hat auch einen Roman zu seiner umkämpften Heimat verfasst – und zwar von Berlin aus. „Es ist immer gut, über seine Heimat von außen zu schreiben“, sagte dazu sein Wuppertaler Kollege Michael Zeller (auf sein Konto übrigens geht der Biennale-Titel). Und die dann vorgetragenen Texte kamen voll Behutsamkeit daher, so in der Skizze „Kaplan“: „Die aufgebrachten Männer legten ihm ihre Steine in die Hand.“ Doch dann ging es zur Sache: Zhadan verwandelte sich in den Frontmann seiner Ska-Rock-Band „Hunde des Weltalls“, mit der er 2500 Kilometer weit im Bus angereist war. (Dass Literatur und schweißtreibende Ost-Rhythmen zusammenpassen, kennt man nur ohne nationale Verengung – von Wladimir Kaminers früher gern auch im Tal gastierender „Russendisko“.)
Wer es ruhiger mochte, fand sich gegen Ende gut aufgehoben im Café Ada bei der Autorin Marica Bodrožić, mit zehn Jahren aus Dalmatien umgesiedelt und längst Trägerin des Kulturpreises Deutsche Sprache. Neben ihrer Lesung formulierte sie auch im freien Bühnengespräch bewundernswert druckreif, schön und unbeirrt zugleich: „Wir sind Teil einer größeren Welt, und trotzdem haben wir diese innere, die uns die ethischen Koordinaten abverlangt.“ Es ging ihr dabei um die Konstruktion von Kriegsgegnern. Alles in allem ist ja die Biennale ein Fest der Sprache – nicht nur hier aber natürlich dann doch auch wieder politisch.
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