Dokumentarischer Literatur wohnt eine eigene Faszinationskraft inne. Dieses Erzählen, das sich weder auf die Fantasie eines Autors noch auf ein Bild oder eine Fotografie stützt, erzeugt eigene Bilder, die in unserer Vorstellung entstehen. Darin liegt auch die Stärke von Erich Hackls Text „Der Fotograf von Auschwitz“, der jetzt mit zwei anderen Texten im Band „Drei tränenlose Geschichten“ bei Diogenes noch einmal veröffentlicht wird. Erich Hackl löst Wilhelm Brasse aus dem historischen Kontext seines Lebens. Bracke war Fotograf in Auschwitz und musste die ankommenden Häftlinge einen Tag bevor sie ermordet wurden fotografieren.Wir stehen mit diesem Fotografen den Häftlingen, darunter Kindern, gegenüber, deren angstvolle Augen uns anstarren.
In einer zweiten Geschichte „Familie Klangsbrunn“ erzählt Hackl von einer jüdischen Familie, die den Nazis durch Emigration entkommen kann. Aber die Kinder, die sich in Brasilien politisch engagieren, werden von den Schergen der Militärs grauenvoll gefoltert. Gnadenlos geht es auch in der dritten Geschichte aus der Wirklichkeit zu. „Tschofenigweg. Legende dazu“ erzählt von einer vergessenen österreichischen Widerstandskämpferin, die noch sechs Tage vor Kriegsende im Lager erschossen wurde. Während Erich Hackl die Brosamen der persönlichen Recherche zusammenfügt, wird in der Erbarmungslosigkeit, mit der Verwaltung, Militär und Polizei Menschen ohne jeden nachvollziehbaren Anlass töteten, die Gesellschaft und ihr Menschenbild zum eigentlichen Sujet. Dokumentarische Literatur rückt den Zeitgeist und das Selbstverständnis einer Epoche in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Erich Hackl ist ein Meister dieser intensiven Wirkung dokumentarischer Literatur. Erwin Koch ist ein anderer. Er kommt vom Journalismus, hat für denSpiegelund die Süddeutsche Zeitunggeschrieben. Er rückt etwa in seinem Band „Von dieser Liebe darf niemand erfahren“–der aus „wahren Geschichten“ besteht–noch näher an seine Protagonisten heran. Dramatischer als John Greens „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ liest sich Kochs Geschichte eines leukämiekranken Mädchens. Er holt sich sein Material aus unserer Gegenwart, oftmals Szenen, die sich über dem Erzählen in Liebesgeschichten verwandeln. Erwin Koch lässt eine Dramatik einfließen, die sich Hackl versagt.
Wie authentisch ist dokumentarische Literatur? Als Leser vermag man darauf kaum eine Antwort zu geben. Entscheidend für ihre Glaubwürdigkeit bleibt die Fähigkeit des Autors, den Text frei von Sentimentalität zu halten. Sicher spielt der Schauer des unglücklichen Schicksals eine wichtige Rolle, aber letztlich werden Geschichten immer entweder durch Liebe oder Tod beglaubigt und das dokumentarische Erzählen entreißt das Leid dem Vergessen. Es lohnt sich, den Lebenswegen nachzugehen, weil sich damit auch der Blick auf die Epoche verändert. Das ist erregend und ungeheuerlich und wirkt über die Lektüre hinweg nach, denn „wahre“ Geschichten entwickeln eine Widerstandskraft, die zeigt, dass die Vergangenheit noch nicht vergangen ist.
Erich Hackl: „Drei tränenlose Geschichte“ | Diogenes | 162 S. | 18,90 €
Erwin Koch: „Von dieser Liebe darf keiner Wissen“ | Nagel & Kimche | 192 S. | 17,90 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Hölle der Liebe
Julian Barnes schreibt sein bitterstes und bestes Buch – Textwelten 04/19
Das Drama der Erinnerung
Annie Ernaux arbeitet ein Kindheitstrauma literarisch auf – Textwelten 02/19
Sind wir eine Nanny-Republik?
Frank Überall geht der deutschen Lust am Verbot nach – Textwelten 06/18
Kampf zwischen Gegenwart und Vergangenheit
Peter Stamm beschreibt, wie man Opfer der eigenen Geschichte werden kann – Textwelten 05/18
Zwischen Herz und Verstand
Ruth Klüger bietet direkten Zugang zur die Welt der Lyrik – Textwelten 04/18
Demütigung
Ein Buch über den sozialen Tod und was man ihm entgegensetzen kann – Textwelten 11/17
Ein notwendiger Roman
Affinity Konar überrascht mit ihrem Meisterwerk „Mischling“ – Textwelten 09/17
Liebe am Mittag
Graham Swift zeigt uns, wie Literatur funktioniert – Textwelten 08/17
Ohnmacht der Bilder
Die Entdeckung der bizarren Liebesgeschichte eines Fotografen – Textwelten 07/17
Inspiration tanken
Wie der Buchhandel Stehvermögen zeigt – Textwelten 07/16
Über Nacht zum Begriff geworden
Köln erlangt Berühmtheit, nur anders als erhofft – Textwelten 03/16
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 07/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25
Im Fleischwolf des Kapitalismus
„Tiny House“ von Mario Wurmitzer – Literatur 05/25
Ein Meister des Taktgefühls
Martin Mosebachs Roman „Die Richtige“ – Textwelten 05/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25