Warum lesen Menschen Romane? Weil sie dort den ewig unbegreiflichen Sujets des Lebens begegnen: der Liebe und dem Tod. Graham Swift, der Man-Booker-Preisträger und neben Ian McEwan vielleicht einflussreichste Erzähler der zeitgenössischen englischen Literatur verbindet beide auf makellose Weise in seinem neuen Roman „Ein Festtag“. Ein schmales Buch von gerade einmal 140 Seiten, aber unvergleichlich dicht, spannend und sexy geschrieben. Das Geschehen trägt sich an einem ungewöhnlichen warmen Sonntag im März 1924 zu. Jane Fairchild, ein junges Dienstmädchen, stiehlt sich aus dem Haus seiner Herrschaft. Sie radelt in der hügeligen Grafschaft Berkshire zum Nachbaranwesen, wo sich die Tür wie von Geisterhand öffnet, als sie eintrifft. Paul Sharingham, der erwachsene Sohn des Hauses erwartet sie schon. Die beiden unterhalten eine Liaison miteinander und werden das letzte Mal miteinander schlafen, da Paul danach zum Lunch bei seiner zukünftigen Frau erwartet wird.
Eine gewisse Melancholie überzieht die Szene von Beginn an. Wir nehmen Teil an der Gedankenmaschine, die in jenem Moment in Janes Kopf in Bewegung gerät, als Paul die Zigarette danach anzündet, während Jane ausgestreckt auf dem Bett liegt. Sie beobachtet, wie er sich anzieht, oder besser gesagt ankleidet, denn darin kommt das ganze gesellschaftliche Gefälle zum Ausdruck, das sich zwischen ihnen erstreckt. Paul macht sich auf zu seinem Rendezvous und überlässt Jane das weitläufige Haus, das noch einige Stunden leer sein wird. Nackt wie sie ist, durchstreift sie die Räume der fremden Herrschaft. Jane versucht sich jedes Detail dieses Tages messerscharf einzuprägen. Denn was macht die Liebe aus, wie kann sie dem unvermeidlichen Tod die Stirn bieten? Es ist der intime Moment, der unvergänglich bleibt, aus dem die Kraft des Widerstands gegen die Zeit erwächst. Swift zeigt uns, wie dieses Mysterium wirkt, und zwar nicht raunend oder verbunden mit metaphysischen Versprechungen, sondern mit einem Realismus, der sich einbrennt. Der Fleck auf dem Laken wird ebenso Gegenstand der Erinnerung sein wie die Fleischpastete, die Paul für Jane in der Küche hat stehen lassen.
Jane er-innert den Moment, und dabei lässt uns Swift teilhaben an der Geburt einer Schriftstellerin. Wie entstehen Geschichten? Sie speisen sich aus dem, was wir erinnern, man könnte auch sagen, was wir nicht vergessen können. Etwas Pathologisches liegt in diesem Phänomen, das unverständlich bleibt und deshalb immer wieder beschrieben werden will. Die Liebe und der Tod sind nicht zu begreifen. Swift zeigt uns, welch sprudelnde Quelle der Reflexion sie sein können und wie sich im Nachdenken über sie erklärt, warum die Welt so eingerichtet wurde, wie wir sie vorfinden. Darin liegt die vitale Subversion dieses Romans, der den Unterschied zwischen Besitzenden und Mittellosen formuliert. Graham Swift schreibt mit der Stimme von D.H. Lawrence. Ein in seiner Dramaturgie grundlegendes Stück Literatur, dabei lustvoll in seinen Bildern und überraschend in seinen Wendungen.
Graham Swift: Ein Festtag | Deutsch von Susanne Höbel | dtv | 144 S. | 18 €
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