Von solch einem Start können andere zeitgenössische Komponisten nur träumen: Als George Benjamins erste große Oper „Written On Skin“ 2012 beim Festival d´Aix-en-Provence aufgeführt wurde, da waren gleich vier bedeutende Opernhäuser aus ganz Europa als Kooperationspartner mit an Bord. Die Produktion zog also nach der umjubelten Uraufführung beim Festival direkt weiter nach Amsterdam, Toulouse, London und Florenz.
„Ziemlich hoch gepokert“, könnte man meinen, zeitgenössische Opern sind im allgemeinen nun wirklich keine sicheren Publikumsgaranten. Doch Benjamin, einstiges Wunderkind aus London, das in den 70-er Jahren mit erst 16 Jahren schon bei dem eigenwilligen Avantgardisten Olivier Messiaen am Pariser Konservatorium studieren durfte, hatte mit Anfang 50 längst bewiesen, dass seine Musik ein größeres Publikum begeistern kann. Den erhofften Höhepunkt beim Festival in Aix hatte er gesetzt. Und so verbreitete sich „Written On Skin“ auch schnell über die ursprüngliche Opernkooperation hinaus in Europa. In Deutschland machte 2013 die Bayrische Staatsoper den Anfang, wenige Monate später folgte das Opernhaus Bonn.
Trobadordichtung aus dem 13. Jahrhundert
In Köln war das Erfolgsstück 2016 konzertant in der Philharmonie zu erleben. Nun bringt es der französische Regisseur Benjamin Lazar erstmals szenisch auf die Bühne im Staatenhaus. Lazar ist unter anderem Spezialist für Theaterformen des Barock. Bei dem Stoff, der dem Komponisten Benjamin für „Written On Skin“ als Vorlage diente, handelt es sich allerdings um noch weitaus ältere Literatur. Librettist Martin Crimp stieß auf eine anonyme provenzalische Trobadordichtung aus dem 13. Jahrhundert mit dem Untertitel: „Das verspeiste Herz“.
Das klingt ziemlich gruselig – und ist es auch. Schließlich steht am Ende einer fatalen Dreiecksbeziehung ein schauriges Abendmahl, bei dem der betrogene Ehemann seiner jungen Gattin offenbart, dass sie gerade vom Herz ihres jungen Liebhabers gekostet hat. Ein Gruselschocker ist „Written On Skin“ aber nicht. Die Konstellation ist vielmehr bekannten Repertoireopern wie Wagners „Tristan und Isolde“ oder Debussys „Pelléas et Mélisande“ nicht unähnlich. Neu hingegen ist Crimps Konstruktion, dass drei Engel mit den Augen unserer Zeit auf das mittelalterliche Geschehen blicken, an dem sie sich gleichwohl selber beteiligen. So ist der junge Buchillustrator (The Boy), den der reiche Grundbesitzer (The Protector) engagiert, auf dass er seine Großtaten in den prächtigsten Farben ausmale, einer dieser Engel. Die junge Frau seines Chefs, Agnès, fängt mit ihm eine Beziehung an. Sie sucht nach sexueller Erfüllung, die sie bei ihrem alten, herrschsüchtigen Gemahl nicht findet. Die Engel betrachten die feudalen und patriarchalen Machtstrukturen nach heutigen Maßstäben und nehmen dabei wieder Distanz zur Handlung ein.
Zwischen den Geschlechtern
Dramaturgisch sind sie so etwas, wie der Chor im antiken Drama, musikalisch in der Besetzung Counterntenor (The Boy), Mezzosopran und Tenor ein Klangkörper zwischen den Geschlechtern. Cameron Shabazi, ein kanadischer Countertenor mit persischen Wurzeln, ist als „The Boy“ zu erleben. In der vergangenen Saison gab er als Guildenstern in der deutschen Erstaufführung von Brett Deans „Hamlet“ sein Hausdebüt. Mezzo Judith Thielsen und Tenor Dino Lüthy machen den Engelschor komplett.
Als tiefer Gegenpart zu „The Boy“ wird Bassbariton Robin Adams antreten. Die junge französische Sopranistin Jenny Daviet gibt Agnès. Das Gürzenich-Orchester spielt unter Leitung seines Generalmusikdirektors François-Xavier Roth. Der facettenreiche Orchesterklang wirkt unter anderem durch ein reich differenziertes Schlagzeug mit allerlei exotischen Klangerzeugern wie Steel Drums, indische Tabla-Trommeln und sogar klingenden Steinen. Die Besetzung sieht auch sehr alte Exoten vor wie eine Glasharmonika oder eine Bassgambe, eine tiefe barocke Kniegeige.
Benjamin ist als Komponist im tonalen System verwurzelt, was seine Musik bei allen Modernismen gut zugänglich erscheinen lässt.
Written On Skin | R: Benjamin Lazar | 1.(P), 20.12. 18 Uhr, 28.12. 19.30 Uhr (Stream) | Oper Köln | 0221 221 28 400
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