Stellen wir uns vor: Zwei Schüler an der Bushaltestelle blicken zu mir herüber, fangen an zu kichern und zu feixen. So geht das eine ganze Zeit, bis auch andere Leute zu mir schauen. Unauffällig checke ich mein Outfit: Sind irgendwo Flecken auf der Hose, an der Jacke? Scheint alles in Ordnung zu sein. Ich bemühe mich, ruhig zu bleiben. Am besten ignoriere ich die. Bloß nicht auffallen, bloß nicht anmerken lassen, dass mich das jetzt verunsichert. Mir wird warm, mir ist schon richtig heiß, und total rot bin ich wahrscheinlich auch wieder im Gesicht. Wann kommt denn endlich dieser Bus? Die beiden Jungs sind völlig aus dem Häuschen, wenn sie zu mir rüberschauen, gackern übertrieben laut und quasseln irgendwas von Youtube. Ich bin doch gar nicht auf Youtube. Die verwechseln mich bestimmt. Das kann gar nicht anders sein. Ich bin erleichtert als der Bus kommt und ich wegfahre.
Ein paar Tage später kriege ich von meinem Exfreund Ralf eine Email mit dem Betreff „Na, wie fühlst Du dich?“ Als ich die Mail öffne, verstehe ich, warum die Kids an der Haltestelle so amüsiert waren. Ralf hat alte Fotos von mir bearbeitet und zu einem Video zusammen geschnitten, Bilder, auf denen ich in eindeutigen Posen mit Tieren zu sehen bin oder wo ich angeblich betrunken in irgendwelchen gammeligen Ecken der schlechtesten Parties aller Zeiten herumlungere; absurd geschminkt oder eklig und komatös in Erbrochenem. Was soll das? Warum macht er das? Und vor allem: Was mache ich jetzt? Ich realisiere gerade, dass dieses Video schon 50.000 Menschen angeklickt haben. Ich denke an die Szene, während ich auf den Bus wartete. Ich stelle mir eine Menschenmenge von der Größe einer Kleinstadt vor, die sich zu mir umschaut und mich feixend auslacht. Ich blicke mich um und niemand ist bei mir. Ich bin allein. Ich kann mich nicht wehren. Ich werde diese Scham nie wieder los.
Diese Art der Demütigung, die über eine konkrete Situation hinausgeht und einer unüberschaubaren Anzahl von Personen präsentiert wird, die zum Teil mittels Foto- und Videomontage einfach nur erfunden ist, verursacht bei den Opfern die größtmögliche psychische Beeinträchtigung. Der Täter oder die Täterin haben dadurch die größtmögliche Macht über die Geschädigten. Sich im Freundeskreis mit albernen Posen zu blamieren oder auf einer Party mit Bekannten einen über den Durst zu trinken, das ist die eine Sache. Eine ganz andere ist es, wenn Beweise von diesen Peinlichkeiten an die weltweite Öffentlichkeit gelangen. Niemand will zum Außenseiter werden. Niemand will Beweise von Aktionen, die man vielleicht einfach nur als jugendlichen Unsinn bezeichnen würde, ausgerechnet seinem Chef präsentieren. Oder der neuen Liebe. Auf welche Ideen ich alkoholisiert und möglicherweise vor Jahrzehnten gekommen bin, geht Andere ja zunächst mal überhaupt nichts an. In Zeiten von Youtube, Facebook, Twitter und Co. ist nichts einfacher als die Demontage eines Rufs und nichts ist schwieriger als die Aufrechterhaltung des Eindrucks, dass man normal und durchschnittlich ist.
Trotzdem gibt es Bereiche, in denen wir auffallen wollen, herausstechen im positiven Sinne. Niemand würde sich dagegen wehren, für seine schöne Stimme gelobt zu werden, für sein Bewegungstalent oder fantastisches Aussehen. Daher haben die Fernsehshows auf der Suche nach Supertalent, Superstar und Supermodel den Zulauf, den sie brauchen, um weiterhin im Programm zu bleiben. Wir wollen die Anerkennung nicht nur von unserem direkten Umfeld, sondern von der Masse der Fernsehzuschauer. Das Pendel der Selbstbestätigung schlägt in allen Richtungen extrem aus. So wie wir selbst um Aufmerksamkeit buhlen, reagieren wir pikiert, wenn sich andere zwecks Vergrößerung ihres Spiegelbildes ins Rampenlicht drängen. So wie das Lob für gute Sänger, Tänzer oder Musiker ins maßlos Begeisterte geht, so werden die weniger Talentierten bis unter die Gürtellinie in den Dreck gezogen. Gleichzeitig angewidert und fasziniert verfolgen wir das Spektakel auf allen Kanälen.
Die Gesellschaft braucht Außenseiter, damit sich die Mehrheit ihrer Mitglieder als „normal“ und „dazugehörig“ empfindet. Gefährlich wird es, wenn die Andersartigkeit nicht mehr toleriert wird und zu Übergriffen führt. Die Gewalt muß gar nicht körperlich sein, eine verbale Demütigung kann so sehr verletzen, dass die Seele irreparabel beschädigt ist. Dies zu verhindern, ist die Aufgabe der offenen Gesellschaft, der „normalen“ Mehrheit.
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