Am Anfang steht ein Unfall, der ihn vorübergehend blind macht. Am Ende hat er sein Auge mit Hilfe seines Verstandes so geschärft, dass ihm in der Welt nicht so leicht etwas imponieren kann. Den Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ hat James Joyce in der Zeit zwischen 1907 und 1914 geschrieben. Die geniale Fingerübung eines damals 25-Jährigen, der hier schon einmal demonstrierte, zu was er im späteren „Ulyssees“ noch fähig sein würde. Eine Coming-of-Age-Story, wie man heute sagen würde, ein Entwicklungsroman, wie man sie im 19. Jahrhundert liebte, geschrieben, zu jener Zeit als Sigmund Freud in Wien die Psychoanalyse erschuf.
Friedhelm Rathjens hat diesem für die Literatur der Moderne so wichtigen Roman nach fast vierzig Jahren wieder eine Neuübersetzung ins Deutsche geschenkt, die uns ganz nah an den jungen Stephen Dedalus heranrückt. Man glaubt das Aroma seines Atems schnuppern zu können, wenn er von seinem Leben im Internat, bei den Patres erzählt, die - glaubt man Joyce - damals schon gerne zum Schlaginstrument griffen, um kleine Jungs zu züchtigen. Weil ihm die Brille fällt, bekommt er diese Strafe, obwohl er die ja eigentlich schon durch seine vorübergehende Blindheit bezogen hat. Aber Stephen wird nicht bitter, überhaupt löst der Roman - während wir dem Jungen durch seine Teenagerzeit folgen – keine Rachegelüste aus, trotz der Tatsache, dass manche schmerzhafte Erfahrung gemacht werden muss. Joyce löst schon hier jedes Erlebnis in sinnliche Bilder auf. Denken und Fühlen lernt Stephen im Gleichschritt während er zunächst den Erwachsenen aufmerksam zuhört und später selbst die Schlüsse aus einem Leben in kleinbürgerlicher Enge zu ziehen versteht. Künstler wird er, ganz ohne Romantik und deshalb umso überzeugender.
Ein schwieriges Unterfangen, weil Stephen nicht wie Prousts mit dem Aroma der Madeleines aufwächst, sondern statt Sandkuchen dünnen Tee und geröstetes Brot als Leckerbissen zu sich nimmt. Irland ist geprägt von der harten Schule des Katholizismus. Sünde und Verderbnis gilt es als Mehlwürmer der Seele abzustreifen. Aber Stephen vermag das, insofern bietet Joyce auf dem weiten Weg voller Abenteuer auch ein Licht, das uns Leser anlocken soll. Wunderbar, dass es Rathjens gelingt, uns Stephen Dedalus als Zeitgenossen zu präsentieren, auch wenn darüber der Blick in die Epoche, in der er lebt, nie verloren geht.
James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Deutsch von Friedhelm Rathjens. Nachwort Marcel Beyer. Manesse Verlag 350 S., 24,95 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.

Die Liebe und ihre Widersprüche
„Tagebuch einer Trennung“ von Lina Scheynius – Textwelten 11/25
Inmitten des Schweigens
„Aga“ von Agnieszka Lessmann – Literatur 11/25
Mut zum Nein
„Nein ist ein wichtiges Wort“ von Bharti Singh – Vorlesung 10/25
Kindheitserinnerungen
„Geheimnis“ von Monika Helfer und Linus Baumschlager – Vorlesung 10/25
Im Spiegel des Anderen
„Der Junge im Taxi“ von Sylvain Prudhomme – Textwelten 10/25
Die Front zwischen Frauenschenkeln
„Der Sohn und das Schneeflöckchen“ von Vernesa Berbo – Literatur 10/25
Alpinismus im Bilderbuch
„Auf in die Berge!“ von Katja Seifert – Vorlesung 09/25
Keine Angst vor Gewittern
„Donnerfee und Blitzfee“ von Han Kang – Vorlesung 09/25
Roman eines Nachgeborenen
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić – Literatur 09/25
Süß und bitter ist das Erwachsenwerden
„Fliegender Wechsel“ von Barbara Trapido – Textwelten 09/25
Geteilte Sorgen
„Lupo, was bedrückt dich?“ von Catherine Rayner – Vorlesung 08/25
Augen auf Entdeckungsreise
„Jetzt geht’s los!“ von Philip Waechter – Vorlesung 08/25
Erste Male zwischen den Welten
„Amphibium“ von Tyler Wetherall – Literatur 08/25
Düster und sinnlich
„Das hier ist nicht Miami“ von Fernanda Melchor – Textwelten 08/25
Die Kraft der Erinnerung
„Das Geschenk des Elefanten“ von Tanja Wenz – Vorlesung 07/25
Eine wahre Fluchtgeschichte
„Wie ein Foto unser Leben rettete“ von Maya C. Klinger & Isabel Kreitz – Vorlesung 07/25
Zart und kraftvoll zugleich
„Perlen“ von Siân Hughes – Textwelten 07/25
Alternative Realität in Tokyo
„Tokyo Sympathy Tower“ von Rie Qudan – Literatur 07/25
Bis zur Neige
„Der Durst“ von Thomas Dahl – Literatur 06/25
Im Reich der unsichtbaren Freunde
„Solche Freunde“ von Dieter Böge – Vorlesung 06/25
Ein Hund als Erzähler
„Zorro – Anas allerbester Freund“ von Els Pelgrom und Sanne te Loo – Vorlesung 06/25
Flucht ins Metaverse
„Glühfarbe“ von Thea Mantwill – Literatur 06/25
Ein Leben, das um Bücher kreist
„Roberto und Ich“ von Anna Katharina Fröhlich – Textwelten 06/25
Die Spielarten der Lüge
„Die ganze Wahrheit über das Lügen“ von Johannes Vogt & Felicitas Horstschäfer – Vorlesung 05/25
Starkregen im Dorf der Tiere
„Der Tag, an dem der Sturm alles wegfegte“ von Sophie Moronval – Vorlesung 05/25