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Gewinner des Niederrheinischen Literaturpreises, Sascha Reh
Foto: Presse

Die Welt auf Brettern deuten

15. August 2011

Sascha Reh seziert in seinem Romandebüt eine Theaterfamilie – Literatur in NRW 10/10

Lothar Lotmann sitzt schwer angeschlagen in einer Talkshow, die die 1980er Jahre thematisiert. Zwischen den von ihm als albern empfundenen Fragen zu Culture Club und Zauberwürfel kommen dem Theatermann die Erinnerungen an seine Inszenierungen zu jener Zeit. Sein Alkoholkonsum vor der Show, aber auch die Gedanken, die der Rückblick in Gang setzt, lassen ihn aufstehen und aus dem Studio flüchten – nicht ohne noch vorher Regieassistenten zu beleidigen und volltrunken nach einem Leihwagen zu verlangen … Lothar Lotmann ist eine der drei Figuren, die der 1974 in Duisburg geborene Sascha Reh in seinem Debütroman „Falscher Frühling“ eine Nacht lang begleitet: die Nacht vor Lotmanns Scheidungstermin. Während Lotmann es sich im Laufe des Abends in einem alkoholisierten verbalen Amoklauf mit seiner Geliebten und ehemaligen Freunden verscherzt, hat sich seine Noch-Ehefrau, eine erfolgreiche Bühnenbildnerin, auf ein Rendezvous eingelassen, das ganz anders verlaufen soll, als sie es geplant hat; die erwachsene Tochter wiederum arbeitet als Nachtwächterin im Duisburger Schauspielhaus und nimmt eine neue Bekanntschaft mit auf die Tour hinter die nächtlichen Kulissen, die auch zu einem Blick hinter die Fassaden ihrer Familie wird …

Hinter die Kulissen geblickt


„Falscher Frühling“ taucht tief ein in die Lebenswelt und -entwürfe in Künstlerfamilien. Die Rückblicke auf verschiedene Theaterinszenierungen, die Schilderung der Ränkespiele auf und hinter der Bühne legen den Verdacht nahe, dass hier ein Insider aus dem Nähkästchen plaudert. Doch weit gefehlt: „Zum Theater habe ich keinen professionellen Bezug“, gesteht der Autor, „Das war aber auch gar nicht nötig. Mir ging es darum, einen Text über Lebensentwürfe und ihr Scheitern (oder zumindest Andersverlaufen) zu schreiben; die Figuren standen von vornherein fest, und schnell war klar, dass Lothar gar nichts anderes sein konnte als ein Theatermann. Gleich darauf stand fest, dass seine erfolgreiche Frau Emilie eine Bühnenbildnerin sein musste. Damit war dann auch die Entscheidung darüber getroffen, dass ich mir die Theatergeschichte und den spezifischen Geruch der „Theaterluft“ irgendwie auf die Festplatte laden musste. Das habe ich getan, indem ich viele (auto-)biographische Äußerungen von den großen Theaterregisseuren der letzten 30 oder 40 Jahre gelesen habe (Stein, Zadek, Peymann etc.) sowie alte Theaterzeitschriften (und darin besonders die Rezensionen.) Ins Theater gehe ich nicht oft und nicht mal besonders gerne; mich interessiert viel mehr das, was sich hinter der Bühne abspielt.“ Dass ihm die Schilderung der Runde durch die nächtlichen Theatergänge so gut gelungen ist, liegt allerdings tatsächlich an eigenen Erfahrungen: „In Duisburg habe ich neben meinem Studium lange im Stadttheater gejobbt: als Kartenabreißer, Garderobier und Hausmeistergehilfe. Besonders fasziniert hat mich immer die Schließrunde, wenn das Theater ganz leer war und ich das Haus für mich alleine hatte. Manchmal bin ich bis in die Morgenstunden dort geblieben, und ich habe seitdem nach einer Möglichkeit gesucht, diese Erfahrungen einmal in einem Text zu verarbeiten.“

Verkorkste Beziehungen

Sascha Reh ist im Brotberuf Familientherapeut. Doch auch wenn es naheliegt, möchte er einer irrtümlichen Interpretation seines Romans vorbeugen: „Obwohl meinem Beruf als Familienberater und meiner Arbeit als Autor natürlich dasselbe Interesse zugrunde liegt, sind meine Figuren völlig fiktional. Bei allen Überschneidungen zwischen der Arbeit als Berater oder Therapeut und der als Autor gibt es doch einen großen Unterschied: Als Helfer arbeite ich immer lösungs- bzw. „ressourcenorientiert“, während ich als Autor in erster Linie von der Dysfunktionalität in zwischenmenschlichen Systemen fasziniert bin – also den verkorksten und (wie man als Autor, nicht aber als Therapeut sagen darf:) unlösbaren Widersprüchen, die in engen Bindungen zwischen Menschen auftauchen und sich chronifizieren können. Man könnte auch sagen: Es sind zwei disparate Wahrnehmungsmodi – professioneller Optimismus und existenzieller Pessimismus.“

Der doppelte Förderpreis

Sascha Reh beschreibt seinen Entschluss, Schriftsteller zu werden, augenzwinkernd als panischen Reflex, ausgelöst von einer Skepsis gegenüber dem „Sinn und Wert allen zwischenmenschlichen Bemühens“, die ihn mit 16 Jahren beschlich. Sein Studium der Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft mit den besonderen Schwerpunkten Sprachphilosophie und Systemtheorie an der Ruhr-Uni Bochum finanzierte er mit Jobs als Gläserspüler in Discos, Videothekar, Lagerist oder Mietwagenfahrer. Ein Job allerdings lässt ihn nicht wieder los: Die Betreuung straffällig gewordener Jugendlicher verhilft ihm zum Quereinstieg in die Familienberatung. Nach Abschluss seines Studiums mit einer Magisterarbeit zur „Geschichte der Filmtheorie“ im Jahr 2005 lässt er sich zum systemischen Familientherapeuten fortbilden. Seit 2007 arbeitet er professionell in diesem Bereich.

Das Schreiben hat er dabei nie aus den Augen verloren. Seit 1994 veröffentlicht er in verschiedenen Magazinen und nimmt an Lesungen im gesamten Ruhrgebiet teil. 2004 wird Reh mit dem Förderpreis zum Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. 2008 kann er die Jury ein zweites Mal mit einer eingesendeten Story überzeugen – die Themenvorgabe „Satirische Familiengeschichte“ kam ihm allerdings auch mehr als gelegen. Als die Preisträger in der Buchhandlung Proust in Essen vorgestellt werden, witzelt er noch, dass sein erster Roman kurz vor der Veröffentlichung stünde – es müsse sich nur ein Verlag finden. Die beiden Förderpreise haben ihm nach seiner Einschätzung allerdings bei der Verlagssuche nicht weitergeholfen, auch Anfragen nach Lesungen folgten kaum. Den Grund hierfür sieht er allerdings nicht allein in der fehlenden Leuchtkraft des Förderpreises: „Selbst ein Gewinner des Open Mike hier in Berlin hat nicht zwangsläufig am nächsten Tag eine Handvoll Agenten oder Lektoren an der Strippe. Und selbst wenn, dann müssen sie noch lange nicht mögen, was man ihnen zu lesen gibt.“ Diese Erfahrung muss er machen, nachdem er 2005 den 2. Platz beim Literaturpreis Prenzlauer Berg belegt hat. Sascha Reh ist vielmehr der Überzeugung, dass viel Glück bei der Verlagssuche im Spiel sein muss – und das ist ihm nun mit dem Schöffling-Verlag hold.

Berlin calling ...


Um dem Glück einen kleinen Schubs zu geben, ist er 2008 nach Berlin gezogen. Von seiner Lohnerwerbstätigkeit her eher ein Risiko, erscheint ihm der Wohnortwechsel künstlerisch neue Perspektiven zu öffnen: „In Berlin wird das Unfertige und Selbstgemachte, das sich in selbstbewussten Gegensatz zur Subventionskultur stellt, nicht nur politisch und wirtschaftlich gefördert (siehe Zwischennutzung von leerstehenden Gebäuden, siehe Quartiersmanagement), sondern auch öffentlich ernst genommen. Das hat etwas mit einer kulturellen Identität zu tun, die man hier nicht mehr gegen die Unterstellung verteidigen muss, sie sei eh nichts wert –, und das schafft einfach ein freundliches, ermutigendes Klima, in dem man gern selbst etwas unternimmt.“ Und in dieses Klima scheinen sich Neuankömmlinge schnell einleben zu können: „Ich war noch nicht eine Woche in Berlin, da hatte ich Anschluss an eine Lesebühne, die hier in unserem Stadtteil Neukölln regelmäßig Lesungen veranstaltet. Unablässig kommen neue Kontakte zu jungen Autoren hinzu.“

Das Ruhrgebiet hingegen kann in seinen Augen gegen die Ausstrahlung der Metropole nicht mithalten: „Ich bin nicht bereit, das Ruhrgebiet als kulturelle Metropolregion anzuerkennen, auch wenn die PR-Strategen hundertmal versuchen, uns das einzubläuen. Das Ruhrgebiet ist vielfältig und abwechslungsreich und lange nicht so schnoddrig, wie ihm nachgesagt wird, aber dass es sich selbst eine aufregende Kulturlandschaft andichtet, nur weil die Zechen zugemacht haben, halte ich für eine ärgerliche Selbsttäuschung.“


Sascha Reh: Falscher Frühling | Schöffling & Co. | 19,95 Euro

Sascha Reh ist Gast beim diesjährigen „Debütantenball“ zum Macondo-Literaturfestival im Oktober (21.-24.10.)

FRANK SCHORNECK

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