Dass ausgerechnet der kleine baltische Staat Estland weltweit Vorreiter für digitale Demokratie ist, überrascht nur auf den ersten Blick. Modernisierung gehört für die Esten seit ihrer Unabhängigkeit vor 26 Jahren schließlich zur ersten Staatsräson. Alles, was hilft, den Staub der ungeliebten Sowjetvergangenheit abzuschütteln, ist willkommen. Außerdem sehen sich die Esten traditionell kulturell eng mit den Finnen verbunden. Gerade mal zwei Stunden Fährfahrt trennen die Hauptstädte Tallinn und Helsinki. Und die Finnen galten immerhin vor gar nicht allzu langer Zeit einmal als avantgardistische Handy-Nation.
Digitalisierung steht also in Estland hoch im Kurs. Mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern bietet das Land dabei den idealen Maßstab um zu erproben, was in Zukunft alles möglich sein wird. Kaum etwas, das man hier nicht digital erledigen kann: Die Online-Steuerklärung ist in der Regel in maximal 15 Minuten ausgefüllt, ein Unternehmen gründen geht per Internet-Formular häufig noch schneller. Auch bei den estnischen Parlamentswahlen darf online abgestimmt werden. Etwa 30 Prozent der Esten nutzen diese schnelle Art des Urnengangs inzwischen. Die Wahlbeteiligung schnellte seit Einführung der I-Wahl nach oben. Besonders Rentner freuten sich über die neue Bequemlichkeit, die mit den Online-Wahlen Einzug erhielt. Die Esten sind aber auch sehr experimentierfreudig, wenn es darum geht, neue Möglichkeiten der digitalen Gesellschaft zu erproben. So hat die ID der Simkarte als offizieller Ausweis einen ähnlichen Status wie ein Personalausweis. Und die digitale Unterschrift hat bei Verträgen den Stellenwert der traditionellen Handunterschrift längst überholt.
Die Digitalisierung erlaubt den schlanken Staat. Was früher mühsame Behördengänge waren, erledigen nun intelligente Algorithmen. Wird ein Kind geboren, zieht sich das System die Daten sofort aus dem Krankenhaus, legt eine ID an und fragt die Eltern allenfalls in einer automatisierten E-Mail noch nach dem Namen. Gibt es einen Engpass in der Gesundheitsversorgung, schlägt die Netzintelligenz sofort Alarm. Der estnische Staat ist so am Ende wenig mehr, als der Verwalter der Daten seiner Bürger. Und das ist erst der Anfang. In Zukunft könnten digitale Netzwerke viele weitere Entscheidungen übernehmen: Wo müssen Straßen gebaut, wo Lehrer eingestellt werden und welche Steuersätze sind am besten für das Allgemeinwohl? Vieles lässt sich mit künstlicher Intelligenz bestimmen, wenn der Staat die uneingeschränkte Verwaltung der Daten seiner Bürger übernimmt.
Das hat allerdings auch seine Schattenseiten: Verantwortung wandert aus den Händen von Menschen aus Fleisch und Blut zu anonymen Maschinen. Und während die Abhängigkeit von Politikern und Parteien im digitalen Staat konsequent abnimmt, nimmt eine andere Abhängigkeit überproportional zu: Die Abhängigkeit von den IT-Providern, die das System betreiben.
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
oknrw.de | Offene Kommunen NRW ist eine Plattform für Bürgerbeteiligung
aula-blog.website | Projekt, bei dem SchülerInnen ab Jahrgangsstufe 5 mithilfe einer auf Liquid Democracy basierenden Plattform demokratisches Handeln erproben und sich aktiv an der Gestaltung ihres schulischen Umfelds beteiligen können
buergerhaushalt.org | Forum der bpb, zentrale Anlaufstelle für Interessierte zu Fragen rund um den Bürgerhaushalt
empatia-project.eu | EU-geförderte Plattform mit digitalen Lösungswegen zur Verbesserung des Bürgerhaushalts
Thema im Mai: ARBEITSGLÜCK
Arbeiten um zu leben oder leben um zu arbeiten?
Kann abhängige Lohnarbeit Sinn stiften und Spaß machen? Macht Ihre Arbeit glücklich? Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Gutes Netz, böses Netz
Erneuert oder zerstört die Digitalisierung die Demokratie? – THEMA 04/17 ZUKUNFT JETZT
„Unsere Demokratie entspricht nicht mehr den Umständen unseres Lebens“
Marina Weisband über Digitalisierung demokratischer Prozesser – THEMA 04/17 Zukunft jetzt
Vorreiter in Sachen Bürgerbeteiligung
Wuppertal hat den ersten Dezernenten und ist am Empatia-Projekt beteiligt – THEMA 04/17 Zukunft jetzt
Verurteilt, frei zu sein
Nicht labern, wählen! – THEMA 04/17 Zukunft Jetzt
Kli Kla Klacks
Intro – Genug für alle
Die Mär vom Kostenhammer
Teil 1: Leitartikel – Das Rentensystem wackelt, weil sich ganze Gruppen der solidarischen Vorsorge entziehen
„Die gesetzliche Rente wird von interessierter Seite schlechtgeredet“
Teil 1: Interview – VdK-Präsidentin Verena Bentele über eine Stärkung des Rentensystems
Der Kitt einer Gesellschaft
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Landesverband des Paritätischen in Wuppertal
Gerechtigkeit wäre machbar
Teil 2: Leitartikel – Die Kluft zwischen Arm und Reich ließe sich leicht verringern – wenn die Politik wollte
„Je größer das Vermögen, desto geringer der Steuersatz“
Teil 2: Interview – Finanzwende-Referent Lukas Ott über Erbschaftssteuer und Vermögensungleichheit
Gegen die Vermüllung der Stadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Umweltschutz-Initiative drängt auf Umsetzung der Einweg-Verpackungssteuer
Gleiches Recht für alle!
Teil 3: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
„Eine neue Ungleichheitsachse“
Teil 3: Interview – Soziologe Martin Heidenreich über Ungleichheit in Deutschland
Klassenkampf im Quartier
Teil 3: Lokale Initiativen – Bochums Stadtteilgewerkschaft Solidarisch in Stahlhausen
Der Staat will zuhören
Wandel im niederländischen Sozialsystem – Europa-Vorbild: Niederlande
Armutszeugnis im Reichtum …
… und alternative Fakten im Wirtschaftssystem – Glosse
Konflikt-Kanzler
Intro – Friedenswissen
Unser höchstes Gut
Teil 1: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“
Teil 1: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden
Platz für mehrere Wirklichkeiten
Teil 1: Lokale Initiativen – Kamera und Konflikt: Friedensarbeit im Medienprojekt Wuppertal
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“
Teil 2: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand
Politische Körper
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Friedensbildungswerk setzt auf Ganzheitlichkeit
Streiken statt schießen
Teil 3: Leitartikel – Das im Kalten Krieg entwickelte Konzept der Sozialen Verteidigung ist aktueller denn je.
„Als könne man sich nur mit Waffen erfolgreich verteidigen“
Teil 3: Interview – Der Ko-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung über waffenlosen Widerstand