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Nachwuchs-Autorin Jenni Fagan aus Schottland
Foto: Phil Wilkinson

Girls mit Speed im Blut

21. März 2014

Jenni Fagan und Stefanie de Velasco am 19.3. auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

Sie sitzt in einem Streifenwagen, trägt Handschellen. Ihr Rock und die Schuluniform sind mit Blutspuren übersät. Die 15-jährige Anais soll einen Polizisten ins Koma geprügelt haben. Sie selbst erinnert sich an nichts. Allerdings ist das Mädchen ohne Eltern einschlägig bekannt für Rauschgift- und Gewaltdelikte. Anais ist „Das Mädchen mit dem Haifischherz“ und Jenni Fagan, die Autorin dieses düsteren Romanjuwels sagt über Anais, „sie muss ein starkes Herz haben, angesichts der Tatsache, dass man sie für den Rest ihres Lebens einsperren will. Außerdem sind Haie schön“.

Mit der jungen Schottin und der aus Bonn stammenden, aber heute in Berlin lebenden, Stefanie de Velasco führte Moderatorin Ute Wegmann im Rahmen der lit.Cologne zwei Debütantinnen in einer Doppellesung zusammen. Wie selbstverständlich war der Saal im Museum für Angewandte Kunst am späten Nachmittag bis zum letzten Platz besetzt und im Publikum kursierte im Grunde nur die eine Frage: Welche der beiden Newcomerinnen hat das bessere Buch geschrieben? Denn während Jenni Fagan die beklemmende Geschichte eines Mädchens erzählt, das als Teil eines sozialen Experiments permanent überwacht wird – auf der Straße ebenso wie in der Badewanne – liefert Stefanie de Velasco mit ihrem Roman „Tigermilch“ die Geschichte einer innigen Mädchenfreundschaft.

Nini und Jameelah stromern unbemerkt von ihren Familien durch den Großstadtdschungel von Berlin. Sie tragen Ringelstrümpfe, die sie bis auf die Schenkel hinauf ziehen und gehen probeweise auf den Strich. Naivität, Sehnsucht, Coolness und eine große Portion moralische Aufrichtigkeit verbindet sie zu einem literarisch unwiderstehlichen Duo. Der Spaltpilz beginnt sich zu regen, als die beiden Zeuge eines sogenannten „Ehrenmordes“ werden. Stefanie de Velasco hat einen Roman von unglaublicher Dichte geschrieben, der raffiniert mit Motiven und Bildern spielt, voller Witz, frecher Dialoge und subtiler Reflexionen über Moral und Realität steckt. Jameelah lebt gerne in Deutschland, befindet sich aber in ständiger Angst davor, wieder in den Irak, wo sie geboren ist, abgeschoben zu werden. Ein Spannungselement, das dem Text zusätzliche Dynamik verleiht. Im Umfeld der Mädchen werden die Kriege im Nahen Osten und in Ex-Jugoslawien zum Thema und Stefanie de Velasco zeigt, wie ihre Auswirkungen längst auch Spuren in Deutschland hinterlassen haben. „Man denkt immer das sind die Probleme der Anderen. Aber das Negieren dieser Realität lässt hier die sozialen Konflikte erst eskalieren“, meint sie.

Im Zentrum des atmosphärisch meisterhaft erzählten Romans von Jenni Fagan steht die Frage nach der Macht und ihrem wichtigsten Instrument, der Kontrolle. Fagan gibt schon einmal einen Vorgeschmack auf die Konsequenzen, die uns die digitale Welt beschert, ohne sich mit sozialen Netzwerken überhaupt beschäftigen zu müssen. Für die Heldinnen beider Romane geht es darum, ein eigenes Leben zu finden und sich nicht in eine vorgegebene Identität zwingen zu lassen. „Mich hat interessiert, über jemanden zu schreiben, der ohne Hoffnung zu sein scheint“, erklärt Jenni Fagan, um dann zu zeigen, wie die Hoffnung doch wieder zu glühen beginnt. In faszinierende Leseerlebnisse verwandeln sich die Romane – deren Filmrechte schon verkauft sind - auch aufgrund des Mutes, den ihre Protagonistinnen beim Kampf für das aufbringen, was an Gefühlen und Überzeugungen in ihnen arbeitet. Die geschickte Moderation von Ute Wegmann holte viele der Ideen und Motive ans Licht, die den beiden Romanen ihren literarischen Wert verleihen. Und diese Lust, Texte aus wechselnden Perspektiven zu betrachten, schenkt einer Lesung erst so recht jenen Erlebnis-Kick, den man nicht mehr so schnell vergisst.

Jenni Fagan: Das Mädchen mit dem Haifischherz. Deutsch von Noemi von Alemann. Verlag Antje Kunstmann. 336 S., 19,95 €

Stefanie de Velasco: Tigermilch. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 288 S., 16,99 €

Thomas Linden

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