Kurz bevor 1986 die beiden bahnbrechenden Superhelden-Comics „Watchmen“ von Allan Moore und „Batman“ von Frank Miller das Genre nachhaltig dekonstruierten, hat bereits Dean Motter die Postmoderne in den Comic getragen: 1985 erschien die von ihm konzipierte Serie um den drogensüchtigen Wissenschaftler „Mister X“, dessen Zukunftsvision einer Stadt zum Alptraum mutiert ist. Nun will er die Entgleisung korrigieren. Gezeichnet wurde die Serie von damals noch wenig bekannten Erneuerern des Comics wie Seth oder den Hernandez Brothers. Cooles New Wave-Design paart sich mit Film Noir-Referenzen, Selbstreferentialität und trockener Humor charakterisieren die einflussreiche Serie, die nun erstmals auf deutsch in einem dicken Hardcover-Band erscheint (Schreiber & Leser). Mit „Liongos Lied“ erscheint der zweite und letzte Teil von Benjamin Flaos „Kililana Song“. Flao entfaltet mit seinen prächtigen Farbzeichnungen eine spannende Geschichte um den Alltag an der Küste Kenias, die Auswüchse des Tourismus, Drogenhandel und Geistergeschichten. Im Zentrum steht der Junge Naim, der in Lamu lebt, einer Stadt, die zum Weltkulturerbe gehört (Schreiber & Leser).
In Zusammenarbeit mit Philippe Otié erzählt der chinesische Zeichner Li Kunwu in „Ein Leben in China“ in epischer Breite seine Autobiografie von der Zeit Maos bis zur Gegenwart. Der Abschlussband „Die Zeit des Geldes“ beginnt 1980 und endet in der Gegenwart. Die groben Zeichnungen unterstreichen die Unsicherheit des Protagonisten, dessen Land sich in den letzten 60 Jahren seines Lebens so sehr verändert hat und voller Widersprüche steckt (Edition Moderne). Mit „Apollinaire“ erscheint der zweite Band der Pablo Picasso-Biografie „Pablo“ von Julie Birmant und Clément Oubrerie. Nachdem im ersten Teil sein bester Freund gestorben ist, streunt Pablo verzweifelt durch Montmartre, unterhält eine Auf-und-Ab-Beziehung zu seiner Muse Fernand und lernt neben Apollinaire auch Gertrude Stein kennen. Die tollen Farbzeichnungen entführen in ein mit trockenem Humor skizziertes wildes Paris des angehenden 20. Jahrhunderts (Reprodukt). Comic-Ignoranten gibt es in Frankreich nicht so viele wie in Deutschland. Dennoch muss Étienne Davodeau mit seinem Winzer-Freund Richard ein Abkommen schließen, um ihn in die Kunst der Comics einführen zu dürfen: Im Gegenzug muss sich Étienne mit der Winzerei beschäftigen. Schnell erkennen die beiden allerlei Parallelen zwischen ihren Professionen. „Die Ignoranten“ erzählt in detaillierten Schwarzweiß-Zeichnungen von einer Annäherung, von der Leidenschaft und der Gabe der Neugier (Ehapa).
Sachcomics erfahren zur Zeit eine Renaissance. Neben biografischen Comics und Reportagen sind thematische Sachcomics noch eine Seltenheit. Mit „Economics“ haben sich Michael Goodwin und Dan E. Burr vorgenommen, per Comic zu erklären, „wie unsere Wirtschaft funktioniert (oder auch nicht)“. Ähnlich wie bei Scott McClouds berühmten Comics über das Medium Comic führt eine Figur durch das Buch und erläutert textreich, aber im klassischen Comicaufbau das Thema kritisch und fundiert. Die Bilder veranschaulichen, kommentieren oder ergänzen den Textblock. Über 300 Seiten kann das zwischendurch auch mal ermüden, bei leichter Verwirrung hilft das Glossar (Jacoby & Stuart). Wem da das Narrative fehlt, dem sei „Scheitern als Erfolg“ von David Cantolla empfohlen. Der Absturz des Unternehmers Cantolla nach der IT-Blase wird rückwärts erzählt. Das stellt die innere Logik auf den Kopf und führt zu überraschenden Erkenntnissen. Jan Diaz-Faes erzählt die autobiografische Insolvenz in schlichten Zeichnungen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Glühender Zorn
„Die leeren Schränke“ von Annie Ernaux – Textwelten 12/23
Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23
Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23
Ernste Töne
Neue Comics von Sfar, Yelin und Paillard – ComicKultur 12/23
Unter der Oberfläche
„Verborgen“ von Cori Doerrfeld
Wenn die Blätter fallen
„Im Herbstwald“ von Daniela Kulot – Vorlesung 11/23
Ausstellung in Buchformat
Wenn jedes einzelne Panel im Comic einem Kunstwerk gleicht – ComicKultur 11/23
Nahrhafte Lektüre
„Das Alphabet bis S“ von Navid Kermani – Textwelten 11/23
Tierischer Gruselspaß
„Die Schule der magischen Tiere: Ach du Schreck!“ von Margit Auer
Die Evolutionsgeschichte in Bildern
„Mensch!“ von Susan Schädlich und Michael Stang – Vorlesung 10/23
Auf der Suche
„Nichts Besonderes“ von Nicole Flattery – Klartext 10/23
Comic und Film Hand in Hand
Von, für und über Erwachsene – ComicKultur 10/23
Im Brackwasser der Geschichte
„Die Postkarte“ von Anne Berest – Textwelten 10/23
Persische Poesie
„Rumi – Dichter der Liebe“ von Rashin Kheiriye – Vorlesung 09/23
Körperbewusstsein und Bauchgefühl stärken
„Mein Körper gehört mir – auch im Sport!“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 09/23
Selbstliebe statt Schönheitsideale
„Flauschig Mauschig“ von Nora Burgard-Arp – Vorlesung 09/23
Großalarm für Otakus
Manga Day 23 – Literatur 09/23
Roman zur Zeit
„Taormina“ von Yves Ravey – Textwelten 09/23
Klaustrophobische Comics
Eingerahmter Existentialismus zwischen Leben und Tod – ComicKultur 09/23
Ein Zirkus für alle
„Adam und seine Tuba“ von Žiga X Gombač – Vorlesung 08/23
Frauen, die die Welt veränderten
„Little Leaders – Mutige Frauen der Schwarzen Geschichte“ von Vashti Harrison – Vorlesung 08/23
Zwiespältige Helden
Geschichten aus anderen Zeiten – ComicKultur 08/23
Die Ketten unserer Tage
„Feuer“ von Maria Pourchet – Textwelten 08/23
Nervöse Energie
„Der Kaninchenstall“ von Tess Gunty – Klartext 08/23
Sommer in New York
„Das grüne Königreich“ von Cornelia Funke und Tammi Hartung – Vorlesung 08/23