

Zwischen sandfarbenen UN-Gebäuden, stillen Olivenbäumen und verrosteten Wachtürmen liegt die Pufferzone von Nikosia. Ein Ort, der auf keiner Landkarte richtig zuhause ist. Seit fast fünfzig Jahren trennt diese unsichtbare Mauer das alltägliche Leben in Zypern, doch Kinder lernen nun, sie zu überwinden. Hier treffen regelmäßig Schulklassen aus Nord- und Südzypern aufeinander. Kinder, die sonst kaum eine Gelegenheit haben, miteinander zu sprechen. Im Rahmen des Projekts „Education for a Culture of Peace“ verwandelt sich diese ehemalige Konfliktlinie in ein Lernfeld des Friedens. Was als pädagogisches Experiment im Jahr 2014 begann, ist zu einem Labor für Verständigung, Mut und gegenseitige Achtung gewachsen.
Vertrauen lernen
Das Programm wurde von zypriotischen Pädagogen, Psychologen und Friedensexperten initiiert. Es wird von internationalen Organisationen wie der Association for Historical Dialogue and Research (AHDR), der KTÖS (Türkische Lehrergewerkschaft), der Friedrich-Ebert-Stiftung und anderen europäischen und internationalen Organisationen unterstützt. Ihr Ziel: Friedenskompetenz dorthin zu bringen, wo bisher Misstrauen war. Gewaltfreie Kommunikation, Empathie und die Fähigkeit, andere Sichtweisen auszuhalten, bilden den Kern dieses Projekts. Durch Gruppenarbeiten lernen die Kinder, Sprache als Werkzeug des Verständnisses zu nutzen und Gesten als universale Brücke einzusetzen, wenn Worte fehlen.
Die Initiative bringt Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters zusammen. In kunstpädagogischen Workshops, Spielen und Dialogübungen lernen sie, Perspektiven zu wechseln, Konflikte zu benennen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Das zentrale Element ist der Austausch. Nicht politische Theorie, sondern gemeinsames Erleben schafft Vertrauen. Wichtig ist, dass zusammen gelacht wird, egal aus welchen Teilen die Kinder kommen.
Mehr Friedensbotschafter
Nach jedem Workshop kehren sie mit Aufgaben in ihre Schulen und Familien zurück. So werden sie zu „Friedensbotschaftern“, die über ihre Erfahrungen berichten und neue Gespräche anstoßen. Manche organisieren kleine Projekttage, andere erzählen in der Nachbarschaft vom Treffen „auf der anderen Seite“. Der Rückkopplungseffekt ist enorm. Jedes Kind, das Vorurteile abbaut, beeinflusst sein Umfeld. Die unterschiedlichen Formate wie Theaterworkshops, Camps und trilinguale Unterrichtsmaterialien (griechisch, türkisch, englisch) fördern den Dialog, die Sensibilisierung für gewaltfreie Konfliktlösung und eine friedensorientierte Haltung der Kinder und Jugendlichen. Neue Module wie gezielte Anti-Hate-Speech-Trainings und die verstärkte Einbindung der Familien wurden 2025 eingeführt. Die Zahl der „Friedensbotschafter“ und Multiplikatoren wächst stetig, und die Nachfrage nach Trainings für Lehrkräfte ist weiterhin immens. Das ist ein Zeichen für den hohen Stellenwert der Initiative im Schulalltag und in der Zivilgesellschaft.
Enorme Wirkung
Besonders bewegend sind die Momente, in denen jahrzehntelange Trennung ihre Härte verliert. Lehrende beschreiben, wie Kinder beginnen, sich gegenseitig Briefe zu schreiben, um nicht nur die Sprache, sondern auch die Gedanken des anderen kennenzulernen. So entsteht, was viele Erwachsene längst aufgegeben hatten, eine gemeinsame Lernsprache des Friedens.
Der Ort selbst, Nikosia, bleibt symbolisch. Im neutralen Raum der UN-Zone erleben die Kinder, dass Identität nicht auf Grenzen basiert, sondern auf Begegnung. Für die Initiator:innen des Projekts ist das mehr als ein pädagogischer Ansatz. Es ist ein Zukunftsentwurf für eine geteilte Insel, die neue Generationen schon heute anders denken lässt.
Das langfristige Ziel ist ehrgeizig: Aus einzelnen Workshops soll ein nachhaltiges Netzwerk entstehen, das Lehrkräfte aus beiden Landesteilen weiter einbindet. Kooperationen mit Friedensbildungsprogrammen anderer Länder stehen bereits im Raum. Denn was in Zypern gelingt, könnte Modellcharakter für viele konflikterfahrene Regionen Europas haben.
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Konflikt-Kanzler
Intro – Friedenswissen
Unser höchstes Gut
Teil 1: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
„Das ist viel kollektives Erbe, das unfriedlich ist“
Teil 1: Interview – Johanniter-Integrationsberaterin Jana Goldberg über Erziehung zum Frieden
Platz für mehrere Wirklichkeiten
Teil 1: Lokale Initiativen – Kamera und Konflikt: Friedensarbeit im Medienprojekt Wuppertal
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
„Besser fragen: Welche Defensivwaffen brauchen wir?“
Teil 2: Interview – Philosoph Olaf L. Müller über defensive Aufrüstung und gewaltfreien Widerstand
Politische Körper
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Kölner Friedensbildungswerk setzt auf Ganzheitlichkeit
Streiken statt schießen
Teil 3: Leitartikel – Das im Kalten Krieg entwickelte Konzept der Sozialen Verteidigung ist aktueller denn je.
„Als könne man sich nur mit Waffen erfolgreich verteidigen“
Teil 3: Interview – Der Ko-Vorsitzende des Bundes für Soziale Verteidigung über waffenlosen Widerstand
Widerstand ohne Waffen
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen und ihr Landesverband NRW
Brauerheer statt Bundeswehr
Wie ein Biertornado die Gewaltspirale aus dem Takt wirft – Glosse
Die Kunstinitiative OFF-Biennale
Wer hat Angst vor Kunst? – Europa-Vorbild: Ungarn
Nicht mit Rechten reden
Der „cordon sanitaire médiatique“ gibt rechten Parteien keine Bühne – Europa-Vorbild Wallonien
Stoppzeichen für Rassismus
Die Bewegung SOS Racisme – Europa-Vorbild: Frankreich
Vielfalt in den Feldern
Belohnungen für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft – Europa-Vorbild: Österreich
Senioren und Studenten müssen warten
Das Wohnprojekt Humanitas Deventer verbindet Generationen – Europa-Vorbild: Niederlande
Feierabend heißt Feierabend
Neues Gesetz schützt Arbeiter vor ständiger Erreichbarkeit – Europa-Vorbild: Spanien
Ausgespielt!
Spielautomaten aus Kleinstädten verbannt – Europa-Vorbild: Rumänien
Zum Herzen durch Verstand
Wie Deutschlands Erinnerungskultur ein NS-Opfer vom Hass abbrachte – Europa-Vorbild Deutschland
Mitregieren per Zufall
Wie Bürger:innenräte die irische Demokratie fit halten – Europa-Vorbild Irland
Das Recht jedes Menschen
Die Flüchtlings-NGO Aditus Foundation auf Malta – Europa-Vorbild Malta
Unglaublich, aber essbar
Todmorden und die Idee der „essbaren Stadt“ – Europa-Vorbild England
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Soziale Energiewende
Klimaschutz in Bürgerhand: Das Energy Sharing – Europa-Vorbild: Österreich
Exorzismus der Geisternetze
Bekämpfung von illegaler und undokumentierter Fischerei – Europa-Vorbild: Italien