An Dramatik ist die russische Literatur kaum zu überbieten. Wobei sich die Lebensgeschichten ihrer Autoren nicht selten als ebenso spannend erweisen wie die ihrer Romanhelden. Elif Batuman, New Yorker Vorstadtkind, Spross einer türkischstämmigen Familie, verliebte sich während ihres Studiums der Literaturwissenschaften in die weiten Landschaften der russischen Prosa. Und Batuman besitzt das Talent, von dieser Liebe auch erzählen zu können, und zwar so spektakulär, dass sie in den USA als „unerhört talentiertes Kind von Susan Sontag und Buster Keaton“ gefeiert wird. „Die Besessenen“ heißt das Buch, in dem sie ihre „Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern“ beschreibt.
Schon im Untertitel weist sich die 34-Jährige als Mitglied einer Generation aus, die sich das Vergnügen an guter Literatur nicht von pedantischem Philologen-Gezänk verderben lässt. Den Zündfunken der Faszination bezieht Elif Batuman aus dem Dialog zwischen Leben und Werk ihrer Autoren. Sie lockt uns in die Welt eines Draufgängers wie Isaak Babel, der in seinem Hauptwerk, der „Reiterarmee“, wuchtige Kriegsszenen von schockierender Aktualität entwirft. Batuman führt uns die Verhör-Maschinerie des russischen Geheimdienstes vor Augen, in der Babel verschwand.
Krieg in der Familie mit einer Ausweitung der Kampfzone auf Freunde und Mitarbeiter entfaltet sie mit dem Blick auf Tolstoi und die zu dessen Lebzeiten entbrannten Kämpfe um seinen Nachlass, einschließlich des Finales auf einem Provinzbahnhof. Dostojewskis Liebe zur Stenografin Anna Snitkina, die er heiratet, mit der er eine Tochter hatte, die plötzlich starb, der einschließlich der Ohrringe seiner Frau alles verspielte, was er besaß, andererseits aber zu ungeheuren Arbeitsexzessen fähig war – das alleine schon ist ein mitreißender Stoff zum Schmökern. Elif Batuman bewegt sich sicher zwischen ihrem historischen Material und den kurzen theoretischen Streifzügen durch die Literaturwissenschaft. Vor allem sucht sie immer wieder den Kontakt zu anderen Lesern. Sie reist auf Kongresse, in deren Verlauf sie schreiend komische Szenen in Gesellschaft skurriler Philologen einfängt, und sie wirft einen Blick auf ihre Kommilitonen. In solchen Passagen wird sie mitunter Opfer ihres unbefangenen College-Temperaments, wenn sie sich in Liebschaften und Klatsch auf dem Campus verliert und für Momente die Verbindung zu ihrem Thema abreißen lässt. Letztlich erweist sich die konsequente Privatheit, mit der Elif Batuman erzählt, nachdenkt und beschreibt jedoch als schmackhafter Köder, mit dem man wunderbar unkonventionell Eingang in die russische Literatur findet.
Elif Batuman: Die Besessenen. Abenteuer mit russischen Büchern und ihren Lesern | Deutsch von Renate Orth-Guttmann | Kein & Aber, 368 S., 22,90 €
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