engels: Herr El-Mafaalani, viele MigrantInnen kommen sehr jung und zum Teil auch allein im Zielland an. Welche Hürden bringt das mit sich?
Aladin El-Mafaalani: Bis vor einigen Jahren hatte die deutsche Rechtslage den Fall gar nicht vorgesehen, dass minderjährige Menschen ohne Eltern nach Deutschland kommen können. Es hat lange gedauert, bis man gesellschaftlich eine Strategie gefunden hat, damit umzugehen. Keine Eltern zu haben, ist schon eine Herausforderung. Dann auch noch in einem anderen Land aufgewachsen zu sein, macht es ungleich schwieriger.
Ein Fehler, der über die gesamte Betreuung hinweg massiv gemacht wurde, ist, dass die pädagogischen Einrichtungen in Deutschland diese fast Erwachsenen wieder zu Kindern gemacht haben.Die meisten Minderjährigen sind ja nicht 7 oder 8, wenn sie flüchten, sondern 16 bis 18 Jahre alt. Das ist ein Alter, in dem man in den meisten Kulturen praktisch erwachsen ist: Da ist die Familiengründung schon im Gange. Sie sind Auto gefahren, hatten vielleicht schon einen eigenen Haushalt. Die Personen in diesem Alter sind auch schon erwerbstätig.
Dann sind sie auch noch allein geflüchtet und haben damit noch einmal dokumentiert, wie selbstständig sie sind. Um es etwas hart zu formulieren: Sie haben etwas gemacht, was die meisten ihrer Betreuer nicht schaffen würden, allein, wenn man sich die körperliche und psychische Belastung anschaut. Nachdem sie dann hier angekommen sind, werden sie aus ihrer Sicht entmündigt und wieder wie kleine Kinder behandelt. Zwei Jahre später sind sie 18 Jahre und dann auf einmal doch keine Kinder mehr. Ich sehe die große Herausforderung ab dem Zeitpunkt, an dem sie volljährig werden. Das führt dann potenziell noch einmal zu zusätzlichen Krisenerscheinungen und Konflikten.
Warum sind unter ihnen so wenige Mädchen?
Es gibt Gründe, warum es so wenige unbegleitete minderjährige Mädchen sind. Ich erzähle nur mal einen Fall: Die Flucht hat wahrscheinlich deutlich über ein Jahr gedauert. Das konnte das Mädchen gar nicht mehr genau sagen. Sie hat sozusagen die Jahreszeiten ein bisschen rekapitulieren können. Auf ihrem Weg ist sie zig Mal vergewaltigt worden, dabei schwanger geworden und ist als minderjähriges Mädchen mit einem Kind in Deutschland angekommen. Das ist der Grund, weshalb es Mädchen fast nie hierhin schaffen, oder sich auch gar nicht erst auf den Weg begeben. Aber auf die wenigen, die das machen, muss man ganz besonders schauen. Ihre Situationen sind komplex. Das sind sehr seltene, aber besondere Fälle, da junge Frauen besonders verletzlich sind.
Wie kann unsere Gesellschaft unbegleitete Jugendliche unterstützen?
Die Rechtslage für unbegleitete minderjährige Jugendliche hat sich deutlich verbessert. Sie ist besser als die Situation Minderjähriger, die mit ihren Eltern da sind. In nahezu allen Bundesländern gibt es darüber hinaus nicht nur Handreichungen, sondern eine Art Strategie im Umgang mit dieser Personengruppe. Sie werden nicht mehr, wie vor zehn Jahren, mit Erwachsenen irgendwohin untergebracht – nach dem Motto: „Sind ja Flüchtlinge, da ist das ja egal“. Es wird jetzt schon genauer drauf geschaut. Das ändert nichts daran, dass es eine ganz schwierige Lebenslage ist. Verbessert haben sich die Bereiche, in denen man grundsätzliche Dinge verändern konnte, was die finanzielle Ausstattung angeht: die Unterbringung, die Verteilung usw. Womit man sich jetzt beschäftigen muss, ist eine Flexibilisierung. Denn selbst, wenn es zwei 16-jährige Jungs sind, die aus einer ähnlichen Region stammen, heißt das noch lange nicht, dass die Betreuung pauschal auf eine ähnliche Art und Weise gestaltet werden kann. Man muss differenzieren bei dieser ganz besonderen schwierigen sozialen Lage, damit dort die Betreuer, die Einrichtung und auch die Rahmenbedingungen flexibler agieren können.
Es gab eine Gesetzesänderung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.
Unbegleitete Minderjährige dürfen nun nicht mehr abgeschoben werden. Als das damals noch gemacht wurde, mussten sie häufig lügen, um im Land bleiben zu können. Das konnten Angaben zum Alter sein oder zum Herkunftsland. Die Tatsache, dass sie so oft lügen mussten, führte in der Folge dazu, dass sie nach einer gewissen Zeit, in der sie die Geschichte wieder und wieder erzählt haben, gar nicht mehr wussten, was am Ende wahr oder was falsch ist. Dazu hat Eva Stauf im Jahr 2013 eine schöne Studie herausgegeben.
Sie sagten eingangs, dass Flüchtlinge in ihren Heimatländern früher als erwachsen gelten. Muss sich bei uns auch rechtlich etwas tun?
Da muss man differenzieren: Sie sehen sich selbst als Erwachsene. Übrigens sind sie das meiner Einschätzung nach häufig nicht, aber sie wurden in ihrem Heimatland so behandelt. Dort hatten sie einen Status und waren schon wer.
Rechtlich muss sich im Bezug darauf überhaupt nichts tun. Strafmündigkeit und Geschäftsfähigkeit sind alles Dinge, die vor 18 bereits einsetzen. Vielmehr ist die Art und Weise, wie man mit Menschen umgeht, die plötzlich in Deutschland auftauchen – ohne den Schutz der Familie –, die keinerlei Sozialisationsprozesse hier durchlaufen haben, eine Herausforderung.
In den meisten Fällen existiert die Familie noch. Mit der gibt es regelmäßigen Kontakt, der manchmal gut, manchmal schlecht ist. Meist existiert die Familie nur digital, im Hintergrundrauschen, was die Angelegenheit aber nicht einfacher macht. Denn ganz oft wird erwartet, dass man den Eltern oder zurückgebliebenen Familienmitgliedern finanziell hilft.
Da ist eine ganz große Verantwortung im Raum.
Eine ganz große. Ganz häufig wird die Realität hier nicht so dargestellt, wie sie ist. Denn wir ermöglichen den Menschen gar nicht erst, in Deutschland zu arbeiten. Sie stehen unter Druck, denn wenn einmal jemand aus der Familie erkrankt, dann gibt es oftmals vor Ort keine Krankenversicherung, die das übernimmt. Und dann warten die Angehörigen darauf, dass der Junge, der in Deutschland ist, ein paar Tausend Euro überweist. In solchen Situationen entsteht auch wirklich ein innerer Druck, der Erwartungshaltung der Familie gerecht zu werden.
Der Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) stellt in einer Umfrage vom Mai dieses Jahres unter Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe fest, psychologische Betreuung geschehe noch zu wenig. Wie ist Ihre Einschätzung?
In der psychotherapeutischen Betreuung herrscht mit Sicherheit ein Mangel. Sind wir mal ehrlich: Dahingehend ist auch die gesamte Bevölkerung in Deutschland unterversorgt. Da wundert es nicht, dass gerade diese Gruppe besonders betroffen ist. Erschwerend kommt gerade hier noch hinzu, dass zumindest bis zu dem Zeitpunkt, ab dem man therapeutische Gespräche in deutscher Sprache führen kann, die Versorgung gar nicht wirklich zu gewährleisten ist. Denn es dauert eine Zeit, ehe man die eigene Gefühlswelt in einer anderen Sprache artikulieren kann. Dolmetscher können helfen, aber ideal ist das auch nicht. Und mit Dolmetschern wird es auch teurer. Also ja, die psychologische Betreuung muss ausgebaut werden, aber das ist zweifelsfrei eine Herausforderung.
Wie bewerten die MigrantInnen ihr Leben im neuen Land? Sehen sie sich als Teil der Gesellschaft, die sie aufnimmt?
Was mich beeindruckt hat, waren Gespräche mit Jugendlichen aus Algerien, Afghanistan oder Ägypten. Denen hat man ihre Faszination angemerkt, dass hier so wenig Polizei und gar kein Militär auf der Straße ist – und es alles trotzdem so ordentlich funktioniert. Nur durch den Alltag der letzten zwei Monate – nur durch Rumspazieren und Gucken – haben sie bereits Fragestellungen entwickelt, die wunderbarer Nährboden für intensive politische Bildung sind. Das waren total spannende Gespräche. Anstatt, dass ich ihnen Fragen stellen konnte, haben sie mir die ganze Zeit welche gestellt.
Zermürbt es sie nicht, sobald sie in die Mühlen der Bürokratie geraten?
Jetzt kommt das Frustrierende: Mit den gleichen Personen hab’ ich dann sechs Monate später wieder Gespräche geführt und man konnte feststellen, dass sie gefrustet waren, weil sie die ganze Zeit warten mussten. Sie wussten nicht, worauf sie überhaupt warten. Keiner hat es ihnen erklärt – zumindest nicht so, dass sie es verstehen. Etwa, dass das Jugendamt gar nichts mit der Polizei oder den Abschiebebehörden zu tun hat. Das wird in ihren Herkunftsländern anders gehandhabt. Manchmal ist es schon eine Herausforderung, die Institution Jugendamt zu erklären. Ein Jugendamt in unserem Verständnis gibt es in den wenigsten Ländern der Welt. All dies führt haufenweise zu Missverständnissen. Warten und Missverständnisse, gerade bei motivierten Menschen, was Geflüchtete in der Regel sind, ist schnell mit Frust verbunden. Im schlimmsten Fall reagieren sie mit Aggression darauf.
Ist unsere Gesellschaft offen genug für diese Veränderung?
Für den Wandel insgesamt in jedem Falle. Ich vergleiche das aber immer mit dem, was auch realistisch ist. Wenn man die weltweite Situation betrachtet, dann fallen mir keine zwei, drei Länder ein, die mit den Herausforderungen so umgehen, dass wir von ihnen aktuell besonders viel lernen könnten. Also ausgehend von dem, was empirisch der Fall ist, ist Deutschland offen und engagiert.
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