Durch die Glastür sieht Georg Schroeder eine Silhouette durch den Flur irren. „Sucht da wer nach dem Kurs?“, fragt der Sprachlehrer und entschuldigt sich, um kurz draußen nachzuschauen. Eine Dame steht im Gang. Tatsächlich erkundigt sie sich nach dem Kurs, der üblicherweise um diese Uhrzeit, Montags um 10 Uhr stattfindet. Doch das Sommerloch hat auch bei der Flüchtlingshilfe Wuppertal West Einzug gehalten. Von den circa 30 Ehrenamtlichen sind in diesen heißen Tagen die meisten verreist.
Auch Georg Schroeders Urlaub geht in zwei Tagen los. An diesem Montagmorgen führt er durch das alte Vohwinkeler Rathaus, das schon von weitem am markanten, fast 40 Meter hohen Turm aus dem Jahr 1897 erkennbar ist. Hier fing alles im Herbst 2015 an. Auch im fernen Westen Wuppertals wussten viele Menschen, dass sie was tun wollen, um den Geflüchteten zu helfen: „Die kamen wirklich nur mit dem, was sie bei sich hatten“, erinnert sich Schroeder an diese verzweifelten Menschen.
Wolfgang Kaiser, heute der Vereinsvorsitzende der Flüchtlingshilfe Wuppertal West, fragte damals auch Georg Schroeder, ob er mithilft. Wie so viele der Ehrenamtlichen befand sich der 70-Jährige im Ruhestand und engagierte sich in der Bezirksvertretung. Alle kamen in diesen Tagen im großen Sitzungssaal des alten Rathauses zusammen. Es war eng, denn über hundert Menschen kamen.
Die Geflüchteten waren anfangs in improvisierten Übergangsheimen oder Grundschulen untergebracht. Zwischenzeitlich drangen Neonazis auf das Gelände ein. Bei der Flüchtlingshilfe ließ man sich jedoch nicht von diesen ungebetenen Gästen beirren. Im Gegenteil: In den Folgemonaten wurde das Hilfsangebot ausgebaut: Sprachkurse und Wohnungssuche wurden organisiert; genauso wie Familien- und Kinderbetreuung. Ein Jurastudent bietet ein Rechtsangebot an, Hobbytüftler laden zur Fahrradwerkstatt ein. Ein Mal im Monat findet zudem ein Begrüßungscafé statt, die besonders für Jugendliche eine Begegnungsmöglichkeit ist.
Die Unterstützung hat sich in den insgesamt fünf Jahren gewandelt. „Die Wohnungssuche ist mittlerweile weitgehend erledigt“, sagt Schroeder. Es werden heute eher Behördengänge oder Jobcenter-Besuche begleitet. Und das mit Erfolg: Heute trifft der Koordinator der Sprachkurse einstige SchülerInnen auf der Straße, wie er erzählt: „Von manchen weiß ich, dass sie Arbeit oder eine Ausbildung haben. Insofern sind wir eine Zwischenstation.“
Vor seiner Pension war Schroeder Lehrer für Musik und Biologie. Bei der Flüchtlingshilfe übernahm er die Koordination sowie den Deutschunterricht. „Dass die Leute die Sprache können, ist Voraussetzung für alles“, sagt er. Für viele Geflüchtete waren seine Kurse eher eine Begleitung zu den üblichen Sprachschulen. Andere kamen aus Ländern, in denen laut Resten des Asylgesetzes keine Fluchtgründe vorlagen. Sie lernten in Schroeders Kursen Deutsch. Und das stellte ihn manchmal vor Herausforderungen. Manche TeilnehmerInnen hatten einen Bachelor-Abschluss in der Tasche, andere dagegen nicht mal die Schule besucht. „Das ist dann ein bisschen schwierig zu unterrichten.“
Zwischenzeitlich war der Andrang so groß, dass sie für die Kurse auf den großen Sitzungssaal des Rathauses ausweichen mussten. Heute reicht für die circa acht TeilnehmerInnen meist der kleine Raum. Und der stand vor fünf Jahren noch leer. Erst mit den Vereinsspenden kamen die Sprachkursbücher oder das Flipchart, wie Schroeder erzählt. Und wenn er aus dem Sommerurlaub kommt, werden in diesem Zimmer auch wieder KursteilnehmerInnen vor ihm sitzen.
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