Ich sitze in der Wartezone und habe die Nummer 453. Ich habe also in den nächsten dreieinhalb Stunden genügend Zeit, um mich kurz vorzustellen:
Mein Name ist Aboud. Ich bin 22 Jahre alt und stamme aus Syrien.
Seit zehn Wochen bin ich nun in Deutschland. Viel kann ich noch nicht zu meiner neuen Heimat sagen: Zu Gesicht bekommen habe ich nämlich immer nur die eine gleiche Dame vom immer selben Amt, zu der ich insgesamt nur 67 Mal gehen musste. Frau Hinterpaffendorf. Nein. Sie hat zwei Namen: Hinterpaffen-Knollendorf. Glaube ich. Namen in Deutschland sind nicht leicht. Ich meine, nett ist sie – die Frau Hinterpaffen-schieß-mich-tot. Das muss man sagen. Sie reicht mir immer mit einem freundlichen Blick sehr beschwerliche Unterlagen entgegen. Fast bin ich verliebt in diese Frau vom Amt. Ruft Frau Dorfknolle einmal nicht an, vermisse ich sie gleich so stark, dass Panik einsetzt und Angstschweiß fließt.
Da ich mich ausschließlich im Amt aufhalte, habe ich natürlich noch nicht so viel von Deutschland gesehen. Aber vielleicht ist Frau Hinterpaffensowieso stellvertretend für ganz Deutschland. Mein Kumpel sagt aber, ich solle lieber mal Abstand halten von der Frau Hinterpaffenschläger. In Deutschland gibt es nämlich so ne Regelung: Eine Armlänge Abstand. Sonst kommt sofort die Polizei.
Oder auch einer von den von Frau von der Leyen aufgestockten 10.000 EU-Grenzschutzbeamten. Die Frage ist aber: Wessen Arm? Der eines Kindes? Oder der eines Affen? Da ist ja ein kleiner Unterschied. Lieber habe ich auch gleich mal mein Maßband zur Sicherheit mitgebracht.
Frau Hinterpaffenknallendorf muntert mich stets dazu auf, positiv zu denken. Schließlich belebt Migration ja auch die Wirtschaft, wenngleich sie schon mit einer Grünpflanze auf ihrem Schreibtisch für den nötigen Abstand von mir gesorgt hat, während sie mein Maßband am Vortag schief beäugelte. Ich glaube, das mit dem Körperteile-Vermessen hat unsere kleine feine Romanze etwas irritiert.
Zum besseren Verständnis – z.B. der deutschen Namen – belege ich jetzt auch einen Sprachkurs. Dort lerne ich sanfte Wörter wie „Einverständniserklärung“, „Widerrufungsrecht“ oder auch „Quietscheentchen“.
Was mein persönlicher Beitrag zur deutschen Wirtschaft sein soll, weiß ich nicht. Da habe ich mich noch nicht ganz festgelegt. Vielleicht irgendwas mit Warten, dachte ich mir. Z.B. globalisierter Warteschildaufhänger. Oder ich arbeite als Wartezettel mit Quietscheentchen auf meinem abgemessenen Arm mit Abstand auf einem Amt.
Jetzt ist auch endlich – ich kann es kaum glauben – die Nummer 453 dran. Aber – oh nein: Frau Paffendorf-Rückenschieber-Hinterhalt ist auf unbestimmte Zeit im Urlaub, erfahre ich. Das ist natürlich eine Katastrophe! Ich glaube, dann gehe ich erstmal wieder nachhause. Aber ich vergaß: Noch habe ich ja keines.
Junge Migration - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
internationaler-bund.de/standort/205514 | Der Wuppertaler Ableger der Jugendmigrationsdienste berät professionell junge Menschen mit Migrationshintergrund.
jugendfuereuropa.de | Die Agentur setzt die EU-Programme Erasmus, Jugend in Aktion und Europäisches Solidaritätskorps auf nationaler Ebene um.
amarodrom.de | Der Verein bezeichnet sich als „interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma“ und wirbt für die politische Beteiligung und Emanzipation junger (Roma-)Menschen.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Deutschland ist Frieden
… doch die Sorgen bleiben
„Sie sehen sich selbst als Erwachsene“
Soziologe Aladin El-Mafaalani über junge unbegleitete Geflüchtete
Erst die Wohnungssuche, dann die Jobvermittlung
Die Flüchtlingshilfe Wuppertal West
Willkommenskultur statt Abschottung – Vorbild Portugal
In Portugal wünscht man sich mehr Flüchtlinge
Kick per Klick
Von künstlich-intelligentem Nachwuchs und digitalen Partnern – Glosse
Systemabsturz
Im Teufelskreis ungesunder Arbeit und Beziehungen – Glosse
Statische Unruhe
Digital verseucht – Glosse
Sparkapsel
Stolze Männer (voran!) - Glosse
Pardon, wie wichtig ist Ihnen Aura?
Eine absurde Glosse über museale Raubkunst und Walter Benjamin
Äff den Mann nach
Zur Gleichberechtigung in kleinsten Schritten – Glosse
Schweißlos vernetzt
Demokratie und Überforderung im World Wide Web – Glosse
Plastik-Perversion
Die verheerenden Auswirkungen des Plastikproblems – Glosse
Geliehene Jugend
Meine WG, meine drei Nebenjobs, mein Gebrauchtfahrrad – Glosse
Vom Winde versorgt
Nachhaltige Energien im Diskurs – Glosse
Teutonisches Kopfnicken
Auf der Suche nach einer Identität zwischen Verbrechen und Klischees – Glosse
Der Marktplatz der Religionen
Vom Mit- und Durcheinander der Religionen – Glosse
Digitaler Segen
Von wegen harmlose Katzenvideos – Glosse
Die große, alte Seltene Erde
Die Mächtigste von uns allen ist unser Planet. Und seine Rache wird grausam sein – Glosse
Mord im Dunkeln
Lasst Tote sprechen – Glosse
Aus Sicht des Betroffenen
Was kein Schmerz aushält – Glosse
Von Bäumen und Bräuten
Der moralische Wankelmut der Menschen – Glosse
Auf der Firmenfeier von Deutschland
Wo Kritik an den Medien auf diverse Betrachtungsweisen stößt – Glosse
Demokratie heißt Wahlfreiheit. Kapitalismus auch
Wenn Zukunftsvisionen sauer aufstoßen – Glosse
Fünf Welten, ein Virus
Warum es auf den Standpunkt ankommt – Glosse
Die Zeit der hirnfressenden Besserwisser
Bald in einem Krankenhaus in Ihrer Nähe? – Glosse