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Foto: Rainer Fuhrmann / Adobe Stock

„Nie aufhören, die Frau ernst zu nehmen“

28. Oktober 2020

Sozialarbeiterin über Femizide – Teil 3: Interview

engels: Frau Heil, was motiviert den Täter, eine Frau zu ermorden?

Theresa Heil: Femizide sind vorsätzliche Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts. Ihnen geht häufig eine Gewaltbeziehung voraus. Was wir von den Tätern und gewaltausübenden Männern kennen, ist, dass Gewalt immer zum Ziel hat, Macht und Kontrolle über die Frau auszuüben und Gewaltbeziehungen oft von großer Abhängigkeit geprägt sind. Gerade wenn Frauen sich trennen oder die Beziehung beenden möchten, gerade wenn Kinder im Spiel sind, soll diese Abhängigkeit gebrochen werden. Momente der Trennung sind für die Frauen sehr gefährlich. Der Mann nutzt dann seine Macht, sie auf anderen Wegen zu verletzen, um die Kontrolle wiederzugewinnen, was dann auch im Mord enden kann.

Morde an Frauen geschehen auch in der Öffentlichkeit. Warum gehen Täter solche Risiken ein?

Das frage ich mich auch. Wir kennen solche Geschichten aus Wuppertal und aus vielen anderen Frauenhäusern auch. Für mich bleibt das ein Rätsel. Häusliche Gewalt passiert im häuslichen Umfeld. Femizide, die in der Öffentlichkeit passieren, zeichnen sich durch eine Tatortverlagerung aus. Wahrscheinlich, um der Frau zu zeigen, dass er die Kontrolle über sie hat und er auch in der Öffentlichkeit am längeren Hebel sitzt. In Limburg war letztes Jahr ein Fall, der mir sehr im Kopf geblieben ist. Ein ziemlich brutaler Mord in der Öffentlichkeit. Der Täter hat dabei seine Frau mit dem Auto mitgeschleift und ihr anschließend mit einer Axt den Schädel zertrümmert. Das war wirklich grauenvoll.

Sobald es Gewalt gibt, empfehle ich, die Polizei zu rufen“

Rund jeden dritten Tag wird eine Frau Opfer eines Femizids. Wie können sich potenzielle Opfer schützen?

Sobald es Gewalt gibt, empfehle ich Betroffenen, die Polizei zu rufen.Sie sollten sich über soziale Einrichtungen und Hilfsangebote informieren, die in solchen Situationen wichtig sind. Leider fehlt dieses Wissen häufig. Zu nennen wären hier das bundesweite Hilfetelefon, Frauenhäuser, Beratungsstellen und – jetzt in Corona-Zeiten – auch Angebote, die mit Chat arbeiten. Die Frauen müssen dort weder anrufen noch hingehen, sie können sich einfach online Hilfe holen. Es ist wichtig, diesen Schritt zu gehen, bevor eine Situation vielleicht ganz eskaliert.

Wie sind NachbarInnen, AnwohnerInnen, PassantInnen gefordert?

Wichtig ist, darauf aufmerksam zu machen, dass eine Gefahr da ist und die Frau Hilfe braucht. Ich finde es wichtig, dass sie nicht wegschauen, wenn sie etwas in der Nachbarschaft mitbekommen. Sie dürfen nie damit aufhören, die Frau ernst zu nehmen. Wenn immer wieder über Jahre in der Nachbarschaft laute Streitigkeiten sind, vielleicht auch die Polizei schon einmal da war, stellen sich viele Menschen aus der Zivilgesellschaft die Frage „Warum geht die Frau nicht einfach?“ und gehen davon aus, sie sei selbst daran schuld, wenn sie bleibt. Dass man ihr an der ganzen Situation die Schuld gibt, ist für die Frau, die im Endeffekt das Opfer ist, das Schlimmste, was passieren kann. Sie ist in einer Gewaltbeziehung gefangen, die von großer Abhängigkeit geprägt ist, mit vielen Folgen. Neben der körperlichen Gewalt kann es auch psychische oder ökonomische Gewalt geben, die mindestens genauso große Ausmaße annehmen kann. Wir erleben häufig, dass Frauen, die einen Platz im Frauenhaus suchen, einwenden, dass sie gar nicht geschlagen werden. Im Gespräch mit ihnen stellt sich dann erst heraus, in welchen Strukturen sie mit dem Mann leben – wie schlecht er sie behandelt.

Viele betroffene Frauen sind durch Gewalterfahrung so geschwächt, dass sie kein Selbstwertgefühl mehr haben“

Durch alle erwähnten Gewaltformen sind sie derart geschwächt, dass sie kein Selbstwertgefühl mehr haben. Wenn die Frauen darüber abhängig gemacht werden, dass sie über keinerlei finanzielle Mittel verfügen oder ein eigenes Konto, sprechen wir von ökonomischer Gewalt. Der Mann verwaltet ihre Jobcenter-Leistungen. Sie dürfen nicht arbeiten gehen. Migrantische Frauen gehen nicht zum Sprachkurs, können so die Sprache nicht lernen und damit arbeiten gehen, sich darüber nicht emanzipieren und vom Mann lösen. Sexualisierte Gewalt ist auch ein Bereich, der in vielen Fällen dazukommt und der auch ganz klar Machtausübung beinhaltet und seelische wie körperliche Verletzungen zur Folge hat. Die Frauen wissen mitunter nicht, wo sie Hilfe bekommen können und ihnen fehlen durch die Isolation die Freundinnen, denen sie etwas anvertrauen können. Aus diesen Abhängigkeiten muss man erst einmal herauskommen.

Wieso gehen Menschen davon aus, die Frau habe Schuld?

Dafür gibt es natürlich diverse Gründe. Viele Menschen denken, wenn sie selbst in dieser Situation wären, würden sie sich natürlich sofort Hilfe holen und es gäbe davon ja genug; immerhin arbeitet die Polizei rund um die Uhr. Wenn man selbst so eine Form der Abhängigkeit nicht erfahren hat und nicht auf diese Weise kontrolliert wurde, dann kann man dieses Verhalten nur schwer nachvollziehen. Es fehlt an Sensibilisierung. Femizide und häusliche Gewalt lassen sich nicht komplett eindämmen, aber wir könnten versuchen, die gesamte Gesellschaft mehr für dieses Thema zu sensibilisieren und aus dem Denken herauszukommen, das den Frauen die Schuld zuweist. Das wäre ein Ausblick für die Zukunft.

Was sind Anzeichen für die drohende Gefahr?

Gerade wenn Frauen sich trennen oder trennen wollen, ist die Gefahr der Eskalation von Gewalt durch den Mann am höchsten – dazu gibt es zahlreiche Studien. Das Tötungsrisiko ist hierbei um das Fünffache erhöht. Da das mitunter einer der gefährlichsten Momente für die Frauen ist, ist es ganz wichtig, dass sie dann gut aufgefangen werden, auch zivilgesellschaftlich.

Die gesamte Gesellschaft für das Problem sensibilisieren“

Welche Drohungen sollte man ernst nehmen?

Streit und Konflikte gibt es überall, in jeder Beziehung. Doch es kommt immer auf die Art und Weise an, wie gestritten wird. Lässt sich erkennen, wer die deutlich hierarchische Position hat, wer also die Macht ausübt und die Kontrolle hat, dann kann der Einzelne auch schneller einschätzen, was bereits grenzwertig oder übergriffig gegenüber der Frau ist und was nicht.Sobald Außenstehende Drohungen oder sogar Morddrohungen mitbekommen, vielleicht auch zum erweiterten Suizid, gerade wenn auch Kinder vor Ort sind, dann müssen sie auf jeden Fall handeln und auch die Polizei einschalten. Erleben sie, dass die Frau unterdrückt wird, sie nicht allein aus dem Haus gehen darf, dort vielleicht sogar festgehalten wird, wäre es auch wichtig, ihr Tipps zu geben, wo sie sich hinwenden kann.

Was wäre dafür eine gute Strategie?

Das sollte am besten so erfolgen, dass der Mann es nicht mitbekommt. Denn es lässt sich schwer einschätzen, wie er darauf reagiert, dass seine Frau Hilfe und Unterstützung erfährt. Diese Momente sind ziemlich heikel, denn im Endeffekt könnte er seinen Frust wieder an der Frau auslassen.

Warum zögern Menschen einzugreifen?

Ein generelles Problem ist, dass Zivilcourage in Deutschland wenig vorhanden ist. Gerade wenn Männer die Gewalttäter sind, haben Außenstehende oft Angsteinzugreifen. Dazu kommt das mangelnde Wissen, mit einer solchen Situation umzugehen. Gerade wenn die Polizei schon einmal da war, wird oft daran gezweifelt, ob durch das eigene Handeln die Situation überhaupt verändert werden kann. Rübergehen und klingeln würde das Problem nicht lösen. Wenn die Menschen deutschlandweit über die Anzeichen von Gewalt und Bedrohung oder über Gefahrensituationen Bescheid wüssten, sie gleichzeitig Unterstützungsangebote kennen würden, dann griffen Menschen auch leichter und selbstverständlicher ein.

Zivilcourage ist in Deutschland wenig vorhanden“

Was sagen Sie zu Begriffen wie Ehrenmord oder Beziehungstat im Zusammenhang mit Femiziden?

Häusliche Gewalt und Femizide gibt es in jeder gesellschaftlichen Schicht und in jeder Kultur. Das ist nichts, was sich auf ein Land oder eine Schicht beziehen lässt. Egal, ob es ein sogenannter Ehrenmord oder ein sogenanntes Familiendrama ist, die Frau wird im Endeffekt durch ihren Partner oder Expartner ermordet. Deshalb sollte man von anderen Begriffen als Mord absehen. Bei allen diesen Fällen liegt zugrunde, dass man gesamtgesellschaftlich odermedial nicht anerkennen möchte, worum es sich eigentlich handelt. Indem man die Frau mit hineinzieht – sie habe die eigene Ehre verletzt, in der Beziehung mit dem Mann nicht so lange mitgespielt – redet man die Tat klein.

Wie werden Femizide in der Öffentlichkeit wahrgenommen?

Der öffentliche Diskurs dazu ist zu weit davon entfernt, dass darüber angemessen diskutiert würde. Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung und sie ist ein strukturelles Problem unserer Gesellschaft. Wenn von Frauenmorden oder Femiziden medial berichtet wird, dann eher im Tenor des Familiendramas oder der Beziehungstat. Genau diese Beschreibungen verharmlosen allerdings die Taten und machen die Frauen zu Mitschuldigen oder Mittäterinnen an ihrem eigenen Schicksal. Mit dem Begriff Mord wird klar, dass es nur einen Täter geben kann. Die Gewalt, die gegen die Frauen ausgeübt wird, endet im Mord. Dann soll es auch als solcher tituliert werden. Denn was kann die Frau dafür, dass ihr Mann gewalttätig ist und sie ermordet?


Femizid - Aktiv im Thema

frauenrat-nrw.de | Unabhängiges Netz aus rund 60 Frauenverbänden und –gruppen in NRW.
frauenberatungsstellen-nrw.de | m Dachverband der autonomen Frauenberatungsstellen NRW e. V. sind rund 50 Frauenberatungsstellen aus NRW versammelt.
www.unwomen.de | UN Women Deutschland ist eins von zwölf Komitees weltweit. Sie engagieren sich für Frauenrechte und in einem Schwerpunkt gegen Gewalt an Frauen.

 

Interview: Nina Hensch

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