In den grob 40 Jahren ihrer Existenz haben Computerspiele und Videogames eine erstaunliche Evolution durchlaufen: Von einfachsten Blockgrafiken und Spielprinzipien hin zur Simulierung virtueller Welten, vom zwielichtigen Kinderzimmerschrecken besorgter Eltern und Pädagogen hin zur milliardenschweren Industrie und der Anerkennung als Kulturgut – Letzteres seit 2008 sogar ganz offiziell durch die Aufnahme des Branchenverbandes „Game“ in den Deutschen Kulturrat. So haben inzwischen auch Regierungsstellen die Förderungswürdigkeit des neuen Kulturguts erkannt, zum Beispiel das Kultursekretariat des Landes NRW, das im vergangenen Jahr das Festival für Games-Kultur „Next Level“ aus der Taufe gehoben hatte. Auch bei der Neuauflage vom 9. bis 12. November trafen sich im NRW-Forum in Düsseldorf wieder Brancheninsider, Künstler, Vordenker und Interessierte, um sich auszutauschen und Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten.
Das übliche Spielhallenfeeling kommerzieller Computerspielmessen mit Unmengen von leuchtenden Bildschirmen suchte man hier vergeblich – auf der „Next Level“ hatte der Siegeszug der Virtual Reality (VR) bereits stattgefunden: So bestanden die meisten der ausgestellten Spiele für den Betrachter vor allem aus abgeklebten Rechtecken auf dem Boden, in denen meist junge Messebesucher mit klobigen Brillen standen und in die leere Luft gestikulierten. Erst wenn man selbst die Brillen aufsetzte, wurden die Welten dahinter sichtbar, in denen sich die Spieler in futuristischen Ballsportarten oder Lichtschwertduellen messen konnten, auf einem Trampolin einen Riesen verkörperten, der ganze Dörfer plattwalzte, oder die Welt aus der Sicht eines Schweins erlebten.
Experimentelle Spielmechaniken, die über reinen Unterhaltungswert hinausgingen, waren in der Ausstellung „Last Level“ zu besichtigen und anzutesten, so etwa eine Arbeit des Australiers Ian McLarty, der in einem 3D-Labyrinth aus farbigen Flächen die Physik außer Kraft gesetzt hatte und je nach Blickwinkel des Spielers neue Räume, Farbverläufe und Gänge entstehen ließ. Mit einer Live-Gameshow und einem Escape Room, in dem man als Gruppe Rätsel lösen muss, um aus ihm zu entkommen, konnten die Messebesucher auch im analogen Raum ihrem Spieltrieb freien Lauf lassen.
Viel geredet wurde in Workshops und Podiumdiskussionen, etwa darüber, wie die in Unterhaltungssoftware kultivierten Spielprinzipien auch in anderen Lebensbereichen angewendet werden können: „Gamification“ heißt das Stichwort. Moderator Lutz Woellert sprach etwa mit Jana Erbes, die mit ihrem Start-Up Locksmith das Prinzip des Escape Rooms zu einem Tool für Ausbildungs- oder Bewerbungssituationen weiterentwickeln will, und Amelie Künzler, deren Firma Urban Inventions etwa ein Spiel entwickelte, das an Ampeln während der Rotphasen gespielt werden kann.
Über das große Potential von Gamification waren sich die Diskutanten einig. „Spieltrieb ist Antrieb“, zitierte Erbes etwa ihr Firmenmotto – wenn sich dieser auch in anderen Bereichen aktivieren lasse, sei Motivationsmangel kein Problem mehr. Alle rechneten fest damit, dass Videospielmechaniken in den kommenden Jahren in den Alltag einsickern werden – nicht nur, weil Videogames inzwischen gesellschaftlich akzeptierter seien, sondern auch, weil gerade die US-Spieleindustrie hohe Summen in die Entwicklung investiere. „Das Thema wird sich in den nächsten Jahren verselbstständigen – die Frage ist, wie wir diesen Wandel aktiv gestalten wollen“, sagte Filmemacherin Roshanak Behesht Nedjad, mit 57 Jahren die deutlich älteste Teilnehmerin der Runde.
Die mit der Digitalisierung gestiegene Bedeutung der Videogamekultur ist auch dem Frauenkulturbüro NRW nicht unbemerkt geblieben – und auch nicht, wie männerdominiert die Industrie dahinter bislang noch ist. Deshalb wurde der Künstlerinnenpreis, mit dem das Büro seit 1996 Frauen in verschiedensten Kultursparten auszeichnet, im Rahmen von „Next Level“ erstmals in der Sparte Gamedesign vergeben. Die beiden Preisträgerinnen repräsentierten dabei ganz verschiedene Generationen von Frauen in der Industrie: Auriea Harvey, die für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde, gehört zu den Pionierinnen, die in den 1990ern begannen, die Möglichkeiten des Internets auszuloten. Anfang der 2000er wendete sie sich dann der Entwicklung von künstlerisch wertvollen Videospielen, wie etwa „The Endless Forest“ zu, die sie mit ihrem eigenen Label Tale of Tales vertrieb.
Leonie Wolf hingegen, Jahrgang 1993, zählt als eine der ersten Studentinnen des 2014 gestarteten Masterstudiengangs „Game Development and Research“ des Cologne Game Lab an der Technischen Hochschule Köln zur neuesten, professionell ausgebildeten Generation von Gamedesignern. Im Rahmen ihres Studiums entwickelt sie nicht nur innovative, künstlerisch wertvolle neue Spielkonzepte, wie etwa in „Love, Mommy and Daddy“, eine sensibel erzählte Verlustgeschichte – auch kommerziellen Erfolg kann sie vorweisen: Ein mit Kommilitonen entwickeltes Puzzlespiel wird ab Dezember auf der Plattform Steam angeboten.
Wolf ist ein gutes Beispiel, wie hilfreich neue Strukturen wie das Cologne Game Lab für den Nachwuchs sind. „Ich hatte auf der Rückseite einer Zeitschrift eine Anzeige gesehen und gedacht: Wow, das kann man studieren?“, erinnert sie sich. Für sie definitiv die richtige Entscheidung: „Ich will nichts anderes mehr machen“, ist sie überzeugt.
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