Kinder sind Herzenssache. Vermutlich deshalb sind sie auch ewiges Reizthema, günstig für Streit wie Kaufreiz: Spricht irgendwer von Kinderlärm, dräut schon der Shitstorm; beim „kinderfreundlich“-Label zuckt die Hand zum Portemonnaie. Freilich sind es meist Erwachsene, die da keifen und kaufen. Und auch in der Erziehung ließe sich fragen, ob nicht beim Kindeswohl letztlich die Eltern im Mittelpunkt stehen.
Kinder brauchen Zuwendung, sollen ihre Persönlichkeit frei entfalten: Wer würde das bestreiten? Aber schnell wird klar, dass massive Unterschiede bestehen im Verständnis pädagogischer Grundsätze: Wo endet die Zuwendung, wo beginnt der Druck? Ist es überhaupt Aufgabe von Eltern, Kindern Richtungen vorzugeben?
in wenig steckt das Dilemma schon im Wort. „Pädagogen“, wörtlich „Kinderführer“, waren in der Antike weder autoritäre noch permissive oder andere Leitfiguren, sondern Sklaven: Es waren die Bediensteten eines Familienhaushalts, die den gut situierten Nachwuchs zur Schule begleiten mussten. Klar, dass die eigentlichen Lehrmeister dennoch ein strenges Regiment führen mochten. Aber auch seit Pädagogik als Wissenschaft betrieben wird, ist nicht klar, inwieweit der Erzieher den Ton angeben soll.
Ein Vordenker wie Jean-Jacques Rousseau setzte beim Weg ins Leben auf Freiheit. Der Aufklärer proklamierte den freien Menschen und versuchte zu belegen, dass erst die Gesellschaft für menschliche Unarten verantwortlich sei. Sein pädagogisches Ideal, wie im Roman „Émile“ präsentiert: Erzieher stehen dem Kind zur Seite, seine Eigenschaften umzusetzen – wie seit Geburt in ihm angelegt.
Autorität ist für Eltern ein zentrales Problem. Nicht fern sind die Versuche antiautoritärer Erziehung im Gefolge der 68er. Manches davon mag in Misskredit stehen, anderes prägt das wertschätzende Miteinander zwischen Eltern und Kindern, wie es vielen heute selbstverständlich ist.
Heute gibt es freilich neue Herausforderungen: Die moderne Welt mit ihrem medialen Überangebot erleben Eltern als Dschungel, den zu meistern es vielleicht keine Machete braucht, aber eine sichere Hand. Ist die kindliche Identitätsfindung überhaupt Sache der Eltern? Nicht nur bei Rousseau findet sich die Vorstellung von den eigenen Anlagen. Sie steckt auch im Wort vom Entfalten oder Entwickeln, das einen autonomen Kern im Kind freilege – nicht von außen einpflanze. Vater und Mutter als Helfer, damit der Spross seinen eigenen Stiefel macht. Einfach ist das nicht.
Komplizierte Familienbande. Zum Vergleich eine Adresse wie die Wuppertaler „Junior Uni“: Die privat finanzierte Einrichtung in Unterbarmen will Kinder früh in Bildungsprogramme einbinden. Ihre Dozenten – aus Hochschule wie auch Berufsleben – vermitteln kindgerechtes aus ihrem Fach; ein Erziehungsauftrag wie bei staatlichen Schulen scheint nicht vorgesehen. In der Ansprache an die junge Klientel ab vier Jahren verwendet man Begriffe wie Studenten und Studienbücher ohne Anführungszeichen. Selbst bei leiser Skepsis wegen der Interessen der Wirtschaft am frühen Rekrutieren: Der Fokus liegt auf dem kindlichen Interesse, auf erzieherisches Hineinregieren wird versucht, zu verzichten. Was in Familien deutlich schwerer ist.
Erziehen zwischen Vertrauen und Erwarten: Zu Paradoxien mag das selbst in Kreisen führen, die eine Führungsaufgabe explizit ablehnen. Von antiautoritären Eltern gibt es den Witz, dass sie sich bei Freunden beklagen: „Jetzt erziehe ich mein Kind doch schon antiautoritär, und es tut trotzdem nicht, was ich will!“ Demgegenüber stehen Eltern, die sich ihr Kind offen als Spiegel ihrer selbst wünschen. „Pädagogische Zeigefinger“ mag keiner; aber Richtungen weisen, wohlmeinend, jedoch nach Gusto – wie sieht es damit aus? Wäre das der notorisch erhobene Zeigefinger, bloß freundlich verkleidet?
Entwarnung. Alles richtig zu machen, beruhigt der Familientherapeut Jasper van Juul, sei überhaupt nicht nötig: „Die meisten Fehler in der Erziehung sind ohne Bedeutung.“ Für den Autor („Dein kompetentes Kind“) werden Menschen mit allen sozialen Eigenschaften geboren und brauchen Eltern als „Leuchttürme“, die ihnen auf dem Weg nichts als Signale geben. Das klingt zum Einen nach Rousseau, führt aber auch besagtes Dilemma vor: Die Geschichte eines vom Diätwahn befallenen Mädchens nennt Juul als Beispiel für ein schlechtes Vorbild durch die Mutter. Bloß, was tun, wenn ein Kind selbst partout Bohnenstange sein will? Vermittlung von Idealen und Orientierung am Kind: So ganz wird sich das wohl nie auf einen Nenner bringen lassen.
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