Sonnig war es am Pfingstsamstag. Sonst nie. Wie ich diesen Text schreibe (und überlege, warum ich so einen öden Einstieg ins Thema gewählt habe wie das Wetter), blicke ich dann und wann aus dem Fenster des häuslichen Büros und sehe vor mir eine Bochumer Innenstadtfassade und es regnen. Heute plästert es immerhin schön kräftig. Richtiger Regen und nicht so ein unentschlossenes Dauergrauklamm.
Ich bin sicherlich nicht der einzige, der sich angesichts der Tristesse vor der Tür nach wärmeren Gefilden sehnt. Anders als vielen anderen steht es mir allerdings frei, das Land jederzeit zu verlassen. Wohin ich will und wie lange ich will. Ich bin ein sogenannter digitaler Nomade.
Was nicht im Reiseführer steht
Das bedeutet, dass ich meine Arbeit größtenteils am Computer erledige, den ich dank seiner Laptophaftigkeit überall hin mitnehmen kann. Was mir dann noch fehlt, um mich über Wasser zu halten, ist ein Internetanschluss und ein kalter Cocktail. Wenn ich wollte, könnte ich nämlich am Strand arbeiten. Davon rate ich aber ab. Sie können das USB-Gerät nun sicher – knirsch! – entfernen.
Die größte Freiheit, die ich mir dabei erlaube, ist die, mich auch länger an einem Ort aufzuhalten. „Der sicherste Ort für ein Schiff ist der Hafen – aber dafür wurden Schiffe nicht gebaut“ heißt es. Aber was nützt das Schippern, wenn es einen nur endloses Meer sehen lässt? Nein, die Häfen sind doch das Interessante am Reisen. Eine Kultur erschließt sich nicht, wenn man sich zwei Kirchen und olle Ruinen ansieht. Das Land lernst du beim Schmausen kennen, auf der Straße und im Schlafzimmer. Mindestens ein Monat sollte es für mich schon sein. Dann bleibt genug Zeit fürs Arbeiten, für entdeckungsfreudige Spaziergänge, für exotische Wanderungen, für die hohe museale Kultur und für die untergründige lebendige. Um Menschen kennenzulernen, die einem das zeigen, was nicht im Reiseführer steht.
Abschiede sind fröhlich
So habe ich in Polen Seelenverwandte und Trinkfreunde gefunden, in Zypern einen Freund und Freigeistkumpane, in Bulgarien faszinierende Freundlichkeit und Musikkumpane, und in Georgien habe ich mein Herz verloren. Nein, nicht an eine Frau. Diese Art von Romantik ist nichts für mich. An das Land habe ich mein Herz verloren. Und die Frauen trugen dann doch auch ein wenig dazu bei.
Doch jeden Freund, den ich finde, jede Romanze, auf die ich mich einlasse, muss ich doch auf diese Lebensweise verlassen. Das ist richtig – und ich mag es. Meine Abschiede sind nicht traurig, sie sind fröhlich. Ich lade dann gerne ein letztes Mal ein, auf offiziell baldiges, in Wirklichkeit irgendwanniges Wiedersehen. Ein chaotischer, angetrunkener Weg zum Zug oder Flug verbindet noch zusätzlich.
Man verspricht sich, in Kontakt zu bleiben. Das klappt natürlich nicht immer. Selten sogar. Aber ist denn eine Freund- oder Bekanntschaft immer etwas auf ewig? Das ist doch ein Mythos wie die Hollywood-Liebe. Die Menschen in aller Welt schenkten mir viel Kraft und Inspiration, und ich hoffe, dass sie auch mich in guter Erinnerung behalten. Das gilt auch für meine Kumpel im Ruhrgebiet.
Denn ganz ehrlich: Mit wem aus der Schul- und Studienzeit hast du, lieber Leser, liebe Leserin, heute noch Kontakt? Welchen der netten Arbeitskollegen von früher schreibst du noch? Von wie vielen Menschen, die du im Leben deine Freunde nanntest, hast du im letzten Jahr gehört?
Wir nehmen immer wieder Abschied. Nach der Schule, dem Studium, dem Arbeitsplatzwechsel, wegen der Karriere oder der Liebe. Das ist normal. Aber nimmt man Abschied um des Glücks willen, dann staunen die meisten.
UND TSCHÜSS - Aktiv im Thema
zeit.de/zett/2020-06/es-ging-immer-nur-um-sie-so-setzt-du-grenzen-in-toxischen-freundschaften | Anschaulicher Beitrag über ungesunde Freundschaften.
profamilia.de/themen/sexualitaet-und-partnerschaft/trennung-und-scheidung | Der Beratungsverbund gibt Orientierung bei familiären und partnerschaftlichen Trennungen.
lisa.gerda-henkel-stiftung.de/audio_freundschaft?nav_id=6793 | Ein philosophisches Gespräch über Freundschaft im Podcast der Gerda Henkel Stiftung.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ja zur Katastrophe
Intro 07/22 – Und Tschüss
Reif für die Trennung
Nähe und Abstand in Familie und Freundschaft
„Das Interesse an engen Freundschaften hat zugenommen“
Psychologe Wolfgang Krüger über Pflege und Ende von Freundschaften
Keine Frau alleine lassen
Seit 40 Jahren bietet die Wuppertaler Frauenberatung ihre Hilfe an
Mehr vom Leben
Auf dem Weg zur Work-Life-Balance – Vorbild Spanien
Systemabsturz
Im Teufelskreis ungesunder Arbeit und Beziehungen – Glosse
Unsinnige Arbeit
Bullshit-Jobs machen krank und stabilisieren das System
Menschliches Versagen
Das Für und Wider von Sicherheit
Wenn die Wife Wifi hat
Von unserer Beziehung zu Maschinen und Bildschirmen
Lenins MacBook
Mit Big Data und Algorithmen — „Planwirtschaft“ à la Amazon
Laut oder aus!
Lärm ist subjektiv – und objektiv schädlich
Wer schreit, hört nichts mehr
Medienverantwortung und Kommunikationsrausch
Solidarität braucht Begegnung
Digitalisierung vereinzelt tendenziell Beschäftigte. Das lässt sich ändern.
Zwischen den Kriegen
Wann wird Frieden der Normalfall?
Es wird ungemütlich
Die Russland-Sanktionen werden Armut und Krisen weltweit verschärfen
Fangen wir an, aufzuhören
Sicherheitspolitik auf Kosten der Umwelt
Raubkultur?
Kulturgut und koloniales Erbe
Blutiges koloniales Erbe
In der Klemme: Das Humboldt-Forum zwischen Geschichtsrevisionismus und Restitution
Sind Namen Schall und Rauch?
Umstrittene Denkmalkultur im öffentlichen Raum
Die hormonelle Norm
Zu den Herausforderungen des weiblichen Führungsanspruchs
Eine Klasse für sich
Ein Feminismus, der sich allein auf Vorstandsposten kapriziert, übt Verrat an Frauen
Mensch ist nicht gleich Mann
Gendermedizinisch forschen und behandeln
Digitale Booster menschlicher Dummheit
Im Netz sind wir nur eine Filterblase voneinander entfernt