Früher war alles anders. Früher etwa war dieser Satz alten Menschen vorbehalten. Ich möchte mich freilich nicht als solcher bezeichnen lassen, wiewohl ich Ausdrücke wie „wiewohl“ verwende. Aber was ist heute schon alt? Im Internet jedenfalls vergehen Jahre innerhalb von Wochen. Erinnert sich noch jemand an „I bims“? Das war erst 2017. Es ist aber genauso vergessen wie verbleites Benzin oder die Namen der vielen Dinosaurier, die wir als Kinder doch alle gekannt haben. Noch viel früher als 2017, da piepte und schnarrte es, wenn man sich mit dem Internet verband. Man tauchte hinab in die abyssale Anonymität, jeder Seitenaufruf eine wilde Web-Site-Story. Nichts war unmöglich.
Die „anständigen“ Nutzer
„Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein“, forderten diejenigen, die im Internet eine Gefahr sahen, wie in allem, was sie nicht kannten. „Das Internet muss frei bleiben“, entgegneten diejenigen, die sich darin auskannten. Dann kam, was stets mit der Popularisierung einer Kulturtechnik einhergeht: Simplifizierung. Je dümmer der durchschnittliche Nutzer, umso einfacher die Technologie. Statt 20 verschiedener Suchmaschinen zu nutzen, wird gegoogelt. Wir stöbern nicht erst durch ein Gros von Versandhändlern, sondern finden alles bei Amazon. Wir streiten uns nicht mehr mit Fremden in Chatrooms, Foren, IRC-Kanälen, sondern bündeln das auf Facebook.
Wenn aber die Nutzerschaft schneller inkompetenter und diverser wird, als die Technologie vereinfacht, führt das zu Konflikten. Dann folgt doch die bereits geforderte Reglementierung. Früher herrschten im Netz Freiheit und Selbstorganisation. Die „anständigen“ Nutzer haben diejenigen mit den Kinderpornos und dem Nazischeiß schon selbst aus dem Forum gejagt und für immer gebannt. Heute dagegen hat auf der weltgrößten Kommunikationsplattform ein Konzern das Sagen, der bereits die weibliche Brust für Hardcore-Pornografie hält, es aber zulässt, dass Minderjährige sich an den selbst zugefügten Schnittwunden ihrer Mitschüler und sächsische Neonazis sich an den SA-Uniformen ihrer Kameraden aus Nord-Dakota aufgeilen können.
Falsche Toleranz
Ja, die sozialen Netzwerkriesen machen Zugeständnisse an eine diverse, tolerante Gesellschaft. Doch dabei gibt es zwei Probleme. Erstens: Was unter toleranter Gesellschaft zu verstehen ist, sieht überall auf der Welt anders aus. US-amerikanische Unternehmen agieren in Deutschland wie in Indien oder Saudi-Arabien. Bei der falschen Auffassung von Toleranz können da auch schon mal Köpfe rollen – konzernintern, versteht sich. Zweitens: Über den Diskurs wachen dort meistens immer noch Menschen. Die wissen nicht, ob du einen geschmacklosen Witz gemacht hast oder ob du ein ernsthafter Vollspacko bist – oder vielleicht doch recht hast. Das sind keine studierten Richter, das sind ungelernte Aushilfen. Sie stützen sich nicht auf Gesetze, sondern auf Leitfäden. Sie blicken nicht auf Jahrhunderte der Jurisprudenz und Philosophie zurück, sondern handeln nach Bauchgefühl, Meinung und opportuner Ideologie. Immer mehr Menschen verbringen immer mehr Zeit im Digitalen. Ja, da müssen die Gesetze doch endlich ein- und durchgreifen! Nur, welche Gesetze? Die deutschen, die amerikanischen oder die der Kaimaninseln?
Ja, der Wächter über Facebook ist Facebook selbst. Doch wer bewacht den Wächter? Rufen wir da wieder nach dem Staat? Ich weiß: Facebook und Google wollen nur meine Daten. Denn die bringen Geld. Sie würden auch direkt mein Geld nehmen, gäbe ich es ihnen. Was anderes wollen sie nicht. Der Staat will auch meine Daten. Aber was will der damit?
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