
Mal ganz ehrlich: Wir Menschen befinden uns permanent im Konflikt. Weil wir uns ständig entscheiden müssen. Entscheiden zwischen zwei oder, wenn es richtig schlecht läuft, noch mehr Dingen. Jede Entscheidung ist ein Konflikt: Was zieh ich an? Wann kauf ich den Weihnachtsbaum? Wo streiche ich die überlange Urfassung zu diesem Text hier? Rote Pille, blaue Pille? Pizza oder Salat? Urne oder Sarg? Ein ganzes Leben lang die Qual der Wahl. Unser Dasein: ein einziger Dauerkonflikt. Ein Dauerkonflikt, der in Zeiten der Digitalisierung und sozialer Medien massiv befeuert wird. Die Herausforderung, sich zu entscheiden, wächst mit den Möglichkeiten: Das Internet torpediert jede und jeden von uns mit heillosem Überangebot: Konsumreize am laufenden Band.
Eine Frau wie ein Mann
An sich sind wir also alle Entscheidungsträger:innen, aber nur die wenigsten von uns würden sich so betiteln. Als Entscheidungsträger gelten die da oben. Zu Entscheidungsträgern schaut man auf. Wir bewundern Entscheider! Weil sie Selbstbewusstsein und Sicherheit vermitteln. Entscheider sind Anführer. Wir folgen Anführern, wenn sie uns Dinge versprechen und für uns entscheiden. Und, yeah: Indem wir uns entscheiden, ihnen zu folgen, sind wir am Ende endlich auch Entscheider. Gute Entscheidung! Dann ist es auch egal, ob die gute Entscheidung die richtige ist. Merkwürdigerweise hat es sich eingebürgert, dass vor allem der Mann als guter Entscheider gehandelt wird. Weil er mit dem „Kopf“ entscheidet und nicht, wie die Frau, volksmundgemäß mit dem „Bauch“. Der Mann entscheidet mit Vernunft und klarem Kopf. Pragmatisch statt intuitiv. Will die moderne Frau heutzutage respektierte Entscheiderin werden, dann sollte sie so entscheiden wie ein Mann entscheiden würde.
Wird’s bald!
Dabei hat die „männliche“ Entscheidungsfindung, siehe Weltlage, wenig zu tun mit Pragmatismus, Vernunft, Kompetenz oder Verantwortung. Überhaupt: Das Problem in unserer zivilisierten Gesellschaft ist weniger, sich nicht entscheiden zu können, sondern sich nicht schnell entscheiden zu können. Entscheider entscheiden schnell. Stante pede! Je schneller ich entscheide, desto entscheidungsstärker bin ich. Eigentlich ist es nicht nachvollziehbar, dass Männer seit Einführung des Blitzschachs überhaupt noch klassisch Schach spielen. Luschen. Zugleich weiß jede und jeder, dass es für die Sache an sich für gewöhnlich sachdienlich ist abzuwägen. Stattdessen aber gilt Abwägen als Zögern, als Schwäche. Als weiblich. Dabei wissen wir alle aus Erfahrung, wie klug und vernünftig es sein kann, über eine Entscheidung zu schlafen. Das Internet will, dass wir uns schnell entscheiden. Vertragspartner wollen es. Damit wir unsere Entscheidung nicht vernünftig überdenken: Drei, zwei, eins, meins.
Worum geht’s eigentlich?
Was also hilft bei Entscheidungsdruck? Nun, man könnte Entscheidungen einfach vermeiden: Keine Beziehung, keine berufliche Verantwortung, massiv reduzierter Essensvorrat. Bananendiät. Wem das zu dröge ist, kann Entscheidungen abgeben. Dabei landet man allerdings auch schnell wieder bei: keine Beziehungen. Wem das nicht liegt, könnte sich vor Augen führen, dass nicht jede Entscheidung existenzieller Natur ist. Das nimmt den Druck. Ruhig. Atmen! Bei den meisten Entscheidungen geht es nicht um Leben und Tod. Also: Nicht unter Druck setzen lassen. Mit den meisten Entscheidung kann man schwanger gehen. Auch die Männer. Und falls es doch mal drauf ankommt und schnell gehen muss? Dann einfach raus damit! Schnell, cool, klar. Wie ein Mann: intuitiv.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?
Als unabhängiges und kostenloses Medium ohne paywall brauchen wir die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser. Wenn Sie unseren verantwortlichen Journalismus finanziell (einmalig oder monatlich) unterstützen möchten, klicken Sie bitte hier.
Vorwärts 2026
Intro – Kopf oder Bauch?
„Zwischen Perfektionismus und Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Psychiater Volker Busch über den Umgang mit schwierigen Entscheidungen
Weil es oft anders kommt
Teil 1: Lokale Initiativen – Gut aufgestellt in Wuppertal: Pro Familia berät zu Schwangerschaft, Identität und Lebensplanung
Worüber sich (nicht) streiten lässt
Teil 2: Leitartikel – Wissenschaft in Zeiten alternativer Fakten
„Dass wir schon so viel wissen, ist das eigentliche Wunder“
Teil 2: Interview – Neurowissenschaftlerin Maria Waltmann über Erforschung und Therapie des Gehirns
Über Grenzen hinweg entscheiden
Teil 2: Lokale Initiativen – Das Experimentallabor Decision Lab Cologne
Mieter aller Länder, vereinigt euch!
Teil 3: Leitartikel – Der Kampf für bezahlbares Wohnen eint unterschiedlichste Milieus
„Glaubwürdigkeit ist ein entscheidender Faktor“
Teil 3: Interview – Sprachwissenschaftler Thomas Niehr über Sprache in Politik und Populismus
Im Krieg der Memes
Teil 3: Lokale Initiativen – Saegge klärt in Bochum über Populismus auf
Keine Politik ohne Bürger
Wie Belgien den Populismus mit Bürgerräten und Dialogforen kontert – Europa-Vorbild: Belgien
Der Marmeladen-Effekt
Eine interaktive Mission durch die Küchentischpsychologie – Glosse
Die Mär vom Kostenhammer
Teil 1: Leitartikel – Das Rentensystem wackelt, weil sich ganze Gruppen der solidarischen Vorsorge entziehen
Gerechtigkeit wäre machbar
Teil 2: Leitartikel – Die Kluft zwischen Arm und Reich ließe sich leicht verringern – wenn die Politik wollte
Gleiches Recht für alle!
Teil 3: Leitartikel – Aufruhr von oben im Sozialstaat
Unser höchstes Gut
Teil 1: Leitartikel – Von Kindheit an: besser friedensfähig als kriegstüchtig
Herren des Krieges
Teil 2: Leitartikel – Warum Frieden eine Nebensache ist
Streiken statt schießen
Teil 3: Leitartikel – Das im Kalten Krieg entwickelte Konzept der Sozialen Verteidigung ist aktueller denn je.
Der Kulturkampfminister
Teil 1: Leitartikel – Wie Wolfram Weimer sein Amt versteht
Inspiration für alle
Teil 2: Leitartikel – Wer Kunst und Kultur beschneidet, raubt der Gesellschaft entscheidende Entwicklungschancen
Unbezahlbare Autonomie
Teil 3: Leitartikel – Die freie Theaterszene ist wirtschaftlich und ideologisch bedroht
Journalismus im Teufelskreis
Teil 1: Leitartikel – Wie die Presse sich selbst auffrisst
Teuer errungen
Teil 2: Leitartikel – Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss bleiben – und besser werden
An den wahren Problemen vorbei
Teil 3: Leitartikel – Journalismus vernachlässigt die Sorgen und Nöte von Millionen Menschen