Opern von Benjamin Britten sind eine besondere Vorliebe des Gelsenkirchener Intendanten Michael Schulz. Nach einer ganzen Reihe von großen und bekannteren Bühnenwerken ist zum Auftakt der neuen Saison am Musiktheater im Revier nun eine ausgesprochene Rarität zu sehen: „Curlew River“ ist eine von drei Kammeropern, die der Komponist explizit zur Aufführung in einer Kirche vorgesehen hat. Und so findet die erste Premiere der Saison am 27.8. auch nicht im Theater, sondern in der benachbarten Georgskirche statt.
Die Kirche liegt in Sichtweite des Theaters und ist auch keine wirklich neue Spielstätte für das Ensemble. Als vor einigen Jahren das Große und das Kleine Haus umfassend renoviert werden mussten, diente das Gotteshaus schon einmal als Ausweichquartier. Dieses Mal ist aber nicht die Raumnot der springende Punkt. Vielmehr hat Komponist Benjamin Britten seine selten gespielte und thematisch religiös grundierte Kammeroper ganz gezielt für den Kirchenraum konzipiert.
Unter anderem ist eine kleine Orgel zur Verstärkung des Orchesters vorgesehen, und gregorianische Gesänge verlangen geradezu nach der an Hall reichen Sakralakustik.
Einfluss des japanischen No-Theaters
Musikalisch wie thematisch ragt „Curlew River“ von 1964 deutlich aus dem Schaffen Brittens heraus. Mitte der 1950er Jahre war der Komponist nach Japan gereist und ließ sich vom traditionellen, mehrere Jahrhunderte alten No-Theater in den Bann ziehen. Eines der traditionellen No-Stücke, „Sumidagawa“, zu Deutsch: der Fluss Sumida, handelt von einer Frau, deren Sohn vor Jahren entführt und sie selber darüber wahnsinnig geworden ist, bevor sie von einem Fährmann am Fluss Sumida vom Tode ihres Sohnes und von seinem nahe gelegenen Grab erfährt und endlich ihren Seelenfrieden findet.
Britten und sein Librettist William Plomer versetzten die Handlung in einen mittelalterlich-christlichen Kontext an den fiktiven „Curlew River“ (Brachvogel-Fluss) in die ostenglischen Fenlands. Andere Stilmittel wurden aus der japanischen Tradition übernommen. So werden sämtliche Partien – neben der „Verrückten“ und dem Fährmann gibt es noch einen weiteren Reisenden sowie einen als Erzähler fungierenden Abt – von Männern gesungen. Denn im No-Theater durften bis ins 20. Jahrhundert hinein nur Männer auftreten. Die Besetzung des kleinen Orchesters unter anderem mit Flöte, Harfe, Trommeln und Glockenspiel ist ebenfalls an die japanischen Instrumente des No-Theaters angelehnt.
Der junge Dirigent Peter Kattermann, ein ehemaliger Schüler von Gelsenkirchens Generalmusikdirektor Rasmus Baumann, hat die musikalische Leitung. Seine traditionelle Rolle als Dirigent billigt ihm der Komponist allerdings nicht zu. Britten gewährte den Instrumentalisten viel Freiraum ohne die Fesseln eines zentralen Dirigats. Vielmehr dürfen verschiedene Instrumentengruppen sogar jeweils ihr eigenes Tempo nebeneinander wählen und kommen nur an bestimmten Stellen der Partitur wieder zusammen. Inszeniert wird die etwa 70 Minuten lange Kammeroper von Carsten Kirchmeier.
Curlew River | R: Carsten Kirchmeier | 27., 28.8., 3., 18., 22.9. 20 Uhr; 10.10. 19 Uhr | Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der Klang der Straße
„Nordstadtoper“ in Dortmund – Oper in NRW 06/22
Doppelgala im Konzerthaus
Festival Klangvokal in Dortmund – Klassik an der Ruhr 05/22
Shakespeare trifft auf Berlioz
„Béatrice et Bénédict“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/22
Sympathy for the Devil
„Der Meister und Margarita“ an der Oper Köln – Oper in NRW 04/22
Eine Oper für Napoleon
„Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ in Dortmund – Oper in NRW 04/22
Der Venusberg im Hinterhof
Nuran Davis Caliș inszeniert Wagners „Tannhäuser“ in Wuppertal – Oper in NRW 03/22
„Ich habe keine Fehde mit Wagner“
Regisseur Nuran David Caliș über die große Nähe der Oper zum Kino – Premiere 03/22
Ein schauriges Opernerlebnis
Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ in Essen – Oper in NRW 02/22
„Es wird ganz schön viel zu sehen geben“
„Hänsel und Gretel“ in der Oper Köln – Oper in NRW 01/22
Jazzig aufgepeppt
Das Theater Dortmund zeigt „Die lustige Witwe“ – Oper in NRW 01/22
Späte Ehre für Walter Braunfels
Oper Köln zeigt „Die Vögel“ – Oper in NRW 12/21
„Fünf Uhr, Zeit für den Tee“
„Alice im Wunderland“ als Weihnachtsmusical am Theater Hagen – Oper in NRW 12/21
Hochdramatisches Konzentrat
„Lucia di Lammermoor“ am Aalto Theater Essen – Oper in NRW 11/21
Singspiel aus dem Bilderbuch
„Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“ – Oper in NRW 11/21
Opernregisseur mit Swing im Blut
Mozarts „La finta giardiniera“ in Essen – Oper in NRW 10/21
Zeitgenössische Oper in Köln
„L‘Amour de Loin“ von Kaija Saariaho – Oper in NRW 10/21
Stolze Malocher und fehlende Maloche
Gelsenkirchen – „Stadt der Arbeit“ – Oper in NRW 09/21
Ziemlich lunar
Oper Köln zeigt „Schnittstellen (II)“ – Oper in NRW 09/21
Eine fantastisch surreale Orgie
„Bählamms Fest“ bei der Ruhrtriennale – Oper in NRW 08/21
Launige Geschichtsstunde
Händels „Giulio Cesare“ im MiR – Oper in NRW 07/21