Eine Blume, ein Schaf, Wald und See – der machthungrige Fausto möchte alles haben. So geht er durch die Welt, reißt alles an sich und wird wütend, sobald er auf Widerstand stößt. Mit lautem Gebrüll und Einschüchterungsversuchen demonstriert er seine selbstzugeschriebene Autorität, die ihm am Ende zum Verhängnis wird. In seinem Bilderbuch „Die Fabel von Fausto“ (NordSüd Verlag) beschreibt der irische Erfolgsautor Oliver Jeffers die Folgen von Gier und Habsucht. Dabei spielt der Titel seines 17. Kinderbuchs auch auf die Tragödie von Goethes „Faust“ an. Wohin führen ruhelose Unzufriedenheit und ein immerwährendes Streben nach mehr?
Es geht um Macht(-missbrauch): Ein Mann, der das ganze Land sein Eigen nennt. Teils akzeptieren die ihn umgebenden Dinge seine Anspruchsverkündungen unbekümmert, teils nur widerstrebend. In Blau, Braun, knalligem Neonpink und -gelb zeichnet der versierte Autor die Bilder zu seiner Geschichte. Dabei hält er es mit der Gestaltung eher minimalistisch, was dem Buch einen modernen Touch verleiht und im Zusammenspiel mit der traditionellen Drucktechnik der Lithografie besonders originell wirkt. So lässt der Autor und Illustrator seinen Fausto im leuchtend gelben Regenmantel aufs Meer hinaussegeln, denn dieser hat immer noch nicht genug. Er möchte nun auch die See erobern und so steigt der kleine Mann auf die Wasseroberfläche, um seine vermeintliche Überlegenheit zu demonstrieren. Großartig ist dabei eine Illustration in der Mitte des Buches, auf der die unendliche Weite des Meeres abgebildet ist und mitten in ihr der winzige Fausto mit seinem Boot. Hier wird sichtbar, wie irrsinnig es ist, dass Menschen Besitzansprüche auf Dinge stellen, die ihnen nicht gehören, von denen sie aber meinen, sie beherrschen zu können.
Die versuchte Bezwingung der Natur durch den Menschen und das Scheitern an derselben wird wunderbar veranschaulicht, als Fausto bei dem Versuch, zornig aufs Wasser zu treten, augenblicklich von den Tiefen des Meeres verschluckt wird, denn er kann nicht schwimmen. An dieser Stelle werden in der Erzählung ganze Seiten leergelassen, was die Bedeutung des selbstgewählten Schicksals Faustos noch einmal unterstreicht. Oliver Jeffers gibt der Wirkung seiner Handlung Raum. Unterdessen geht das Meer weiter seinem Dasein nach, ebenso die Blume, das Schaf, der See und all die anderen Dinge. Ganz im Stil der Fabel gibt es am Ende der Geschichte die berühmte moralische Lehre. Das Nachwort des Bilderbuchs bildet der Ausschnitt eines Beitrags aus dem New Yorker von 2005 – Oliver Jeffers zeigt hier in den Worten des amerikanischen Schriftstellers Kurt Vonnegut, worum es bei Faustos Fabel geht: das Wissen darüber, genug zu haben.
Oliver Jeffers: Die Fabel von Fausto | Aus dem Englischen von Anna Schaub | NordSüd Verlag | Ab 5 Jahren | 96 S. | 18 €
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