Es kann eine Bürde sein, stets aufs Neue als Musterbeispiel für den „verlorengegangenen Autor“ des Ruhrgebietes herzuhalten. Wenn es um Autoren geht, die das Revier in Richtung Berlin verlassen haben, wird neben Ralf Rothmann auch stets Marion Poschmann genannt. Die 1969 in Essen geborene Autorin wächst in Mülheim an der Ruhr und Essen auf, doch ihr Studium der Germanistik, Philosophie und Slawistik führt sie nach kurzer Zeit in Bonn recht schnell nach Berlin: „Ich bin nach der Wende nach Berlin gezogen, weil mich diese Stadt mit ihrem kulturellen Leben, die Umbruchsituation mit ihren Freiräumen, die Durchmischung von Ost und West elektrisiert hat.“ Dass dies als Abwanderung gedeutet wird, kann die Autorin nur bedingt nachvollziehen: „In unseren Zeiten der Mobilität ist das eigentlich nichts Besonderes, von daher finde ich es etwas übertrieben, wenn das als ‚Migration’ bezeichnet wird, wenn Berlin aus Ruhrgebietssicht schon quasi Ausland ist.“
Reiseleiterin ins Revier
Doch andererseits wird sie nun im Jahr der Kulturhauptstadt RUHR.2010 von diversen Medien geradezu zur intellektuellen Reiseleiterin in das unerforschte Land der Zechen und Hochöfen erkoren, wenn sie zum Beispiel kürzlich für Die Welt und für den Reiseteil (!) der FAZ über Stadtraummöblierung und die Zeche Zollverein schreibt. Und es ist ein durchaus distanziert-fremder Blick, den sie zum Beispiel auf das Industriedenkmal und Weltkulturerbe wirft. Sie gibt selbst ein wenig verwundert zu, als gebürtige Essenerin erstmals im vergangenen Jahr auf Zollverein gewesen zu sein – anlässlich einer Familienfeier. Sie staunt noch immer, dass es hier funktioniert, dass „derartige Kulturangebote von der Bevölkerung auch angenommen werden und mehr sind als die üblichen, mustergültigen PRMaßnahmen oder nostalgische Verklärung einer Knochenarbeit, die man selbst nicht hätte leisten wollen.“ Marion Poschmann bekräftigt ihre Verbundenheit mit dem Revier, steht zu ihren Wurzeln: „Da ich im Ruhrgebiet aufgewachsen bin, da meine Eltern, Verwandten, Freunde weiterhin dort wohnen, hat es in meinem Lebenslauf natürlich immense Bedeutung. Die Gegend, in der man die Kindheit und Jugend verbringt, ist wahrscheinlich die, die man sein Leben lang am besten kennt, weil man als Kind in alle Verhältnisse den ungehindertsten Einblick hat und von ihnen in dieser Zeit auch am meisten betroffen ist. Es hat mit Heimat und Identität zu tun, mit Gefühlen, die durchaus ortsgebunden sind.“ In dem vermehrten Zuzug von Künstlern aller Sparten nach Berlin sieht sie hingegen als „eine Mode, es hat etwas Goldrauschmäßiges, Glücksritterhaftes – aber manchmal ist es für die Kunst entscheidend, sich irrational zu verhalten und etwas zu tun, was unerklärlich bleibt“.
Wandlerin zwischen Prosa und Lyrik
Marion Poschmanns literarische Karriere beginnt im Jahr 2000 mit einem Stipendium der Stiftung Kulturfonds Berlin und Brandenburg und nimmt kurz danach rasant an Fahrt auf. Sie zählt zu den wenigen AutorInnen, die mit großem Talent ebenso in der Lyrik wie auch in der Prosa zu Hause sind. So debütiert sie im Jahr 2002 sowohl mit dem Gedichtband „Verschlossene Kammern“ (Verlag zu Klampen) und dem viel beachteten Roman „Baden bei Gewitter“ (Frankfurter Verlagsanstalt). Für ihre Lyrik wird sie unter anderem mit dem Wolfgang- Weyrauch-Förderpreis ausgezeichnet, dem „kleinen Bruder“ des etablierten Leonce-und-Lena-Preises. Im Jahr 2005 erhält sie den Literaturpreis Ruhrgebiet. Im selben Jahr wird ihr „Schwarzweißroman“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Dass sie nicht nur ein Liebling der Kritik und Juroren ist, zeigt wahrscheinlich am deutlichsten, dass dieser Roman als Fortsetzungsroman in der WAZ abgedruckt wurde. Die Geschichte aus Eis und Schnee im Stahlkombinat Magnitogorsk hält sich einige Wochen in den Bestsellerlisten.
Wo ist das literarische Zentrum an der Ruhr?
Die mit zahlreichen Stipendien bedachte Autorin weiß, wovon sie spricht, wenn sie zur Situation der Ruhrgebietsszene anmerkt: „Schreiben kann man theoretisch überall, dennoch gibt es Bedingungen, die förderlich sind. Dazu gehört eine materielle Grundlage, und ich könnte mir vorstellen, dass es sinnvoll wäre, neben dem Literaturpreis Ruhrgebiet auch Arbeitsstipendien für Autoren zu vergeben, die im Ruhrgebiet leben. Vergleichbares gibt es bereits auf der Ebene des Bundeslandes NRW, aber eben nicht speziell für das Ruhrgebiet.“ Allerdings sieht sie in der finanziellen Förderung nicht das einzige Manko, ihre Kritik geht durchaus tiefer in die Strukturen: „Daneben spielt für mich so etwas Vages wie ‚Atmosphäre’ eine große Rolle. Die hat mit dem kulturellen Umfeld zu tun, es gibt im Ruhrgebiet natürlich hochkarätige Veranstaltungen, aber kein Literaturhaus, kein literarisches Zentrum, das eine gewisse Kontinuität, Anregung, Austausch böte. Stattdessen wird hier Mobilität durchaus erwartet, man hofft, dass die Leute für eine Lesung kreuz und quer durchs ganze Ruhrgebiet fahren. Ich glaube, das Publikum wäre dankbar für eine klare Anlaufstelle.“
Dabei gibt sie sich nicht der Illusion hin, dass man mit einem Literaturhaus automatisch die literarische Szene im Ruhrgebiet halten oder gar ins Ruhrgebiet locken könnte: „Literarisches Schreiben ist immer mit einem hohen persönlichen Risiko verbunden, insofern auch der Ort, den man dafür wählt, eine höchst individuelle Angelegenheit, das lässt sich nicht verordnen und hat oft Gründe, die äußerst unvernünftig scheinen.“ Ähnliches lässt sich sicherlich auch über die Verlagswahl sagen. Nach zwei Romanen, einem weiteren Lyrikband und der von der Kritik hymnisch gefeierten „Hundenovelle“ trennt sich Marion Poschmann von der Frankfurter Verlagsanstalt, bleibt aber in gewisser Weise der Unseld-Familie erhalten: Ihr neuester Gedichtband ist gerade bei Suhrkamp erschienen. Anders als mit dem Umzug nach Berlin scheint sie hier gegen den Strom zu schwimmen. Andererseits: Ralf Rothmann ist auch Suhrkamp-Autor...
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