engels: Herr Lietzmann, machen Wahlen in Zeiten der Postdemokratie überhaupt noch Sinn?
Hans J. Lietzmann: Den Begriff Postdemokratie benutze ich nicht. Postdemokratie bedeutet ja, dass wir früher eine Demokratie hatten und jetzt nicht mehr. Diese Sicht teile ich nicht. Der Begriff mag für das Feuilleton geeignet sein, für die Politikwissenschaften ist er es nicht. Natürlich machen Wahlen Sinn. Allerdings müssen sie so durchgeführt werden, dass sich ein repräsentativer Teil der Bevölkerung daran beteiligen mag und kann.
Die Wahlbeteiligung sinkt …
Das ist richtig. Sie sinkt in Deutschland aber auf kein dramatisches Niveau. In anderen Ländern wie in der Schweiz und den USA ist die Situation viel dramatischer. Trotzdem würden wir diesen Ländern nicht vorwerfen, undemokratisch zu sein.
Also ist hier alles gut?
Nein, es ist durchaus problematisch, dass wir bei der Wahlbeteiligung eine soziale Spaltung feststellen. Die sozial prekären Gruppen unserer Gesellschaft gehen fast gar nicht mehr zur Wahl. Beim gebildeten Mittelstand ist die Wahlbeteiligung hingegen sehr hoch. In den sozial schwachen Gruppen stellen wir eine Wahlbeteiligung von etwa 20 Prozent fest, in den wohlhabenderen Gruppen eine Wahlbeteiligung von etwa 70 Prozent. Dieser Umstand verzerrt die Relationen in den Parlamenten oft sehr stark und verändert auch die Politik, die in den Parlamenten gemacht wird.
Warum ist das so?
Zum einen mag das daran liegen, dass sich manche Bevölkerungsgruppen kompetenter in politischen Fragen wahrnehmen als andere. Wichtiger aber ist, dass sich viele sozial benachteiligte Gruppen, Alte und Migranten von der Parteipolitik nicht hinreichend verstanden und vertreten fühlen.
Der Politikbetrieb wirkt insgesamt auf viele undurchschaubar.
Unsere Gesellschaft ist sehr viel ausdifferenzierter als früher. Der Bauer wählt nicht mehr zwangsläufig CDU, der Arbeiter SPD und der Arzt FDP. Die großen homogenen Bevölkerungsgruppen gibt es nicht mehr. Ähnlich differenziert ist die Situation in Parteien und Parlamenten. Es müssen ständig neue Kompromisse gefunden werden. Politik aus einem Guss gibt es eigentlich nur in Diktaturen, vielleicht noch in Zwei-Parteien-Systemen wie in Großbritannien oder den USA. Aber diese Modelle entsprechen nicht unserem Demokratieverständnis.
Wie ist der Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu begegnen?
Wir brauchen neue, flexible und dynamische Politikelemente, die den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, auch in der laufenden Legislaturperiode ihre Meinung äußern können, um neue Impulse geben zu können.
Wie sähe so etwas aus?
Wir haben in der jüngsten Vergangenheit schon Erfahrungen mit einigen Bürgerbeteiligungsverfahren und Bürgerentscheide gemacht. Dieses Vorgehen kann auf Bundesebene und Europaebene ausgeweitet werden.
Bürgerbefragungen ermöglichen mehr Demokratie?
Nehmen wir das Beispiel Atomkraft. Nach der letzten Bundestagswahl sind CDU und FDP mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Sie hatten bei der Wahl eine Mehrheit bekommen und sprachen sich für die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken aus, obwohl deren Wähler mehrheitlich dagegen waren. Das Thema Atomkraft spielte aber 2009 keine Rolle. Dann aber kam Fukushima und die Frage nach der Energieversorgung wurde sehr wichtig. Es wurde deutlich, dass die Regierung keine Meinung mehr vertreten konnte, die ihre eigenen Wähler ablehnten. So kam es dazu, dass Parteien die Energiewende vertraten, die diese kurz zuvor noch ablehnten. Eigentlich hätte man damals eine Bürgerbefragung durchführen können. So stünde die Energiewende jetzt auf sichererem Boden.
Manchmal will das Volk aber auch gefährlichen Unsinn. Der Zuspruch zur Todesstrafe wächst nach spektakulären Kindsmordfällen rapide.
Politiker ändern ihre Meinung und auch die Bevölkerung ändert ihre Meinung. Das ist ihr gutes Recht. So sprunghaft wie oft behauptet ist die Meinung der Bevölkerung nicht. Wichtig bei Beteiligungsverfahren ist, dass man den Bürgerinnen und Bürgern die entsprechenden Informationen zur Verfügung stellt. Es reicht nicht, die Menschen nur zur Urne zu rufen. In der Schweiz werden bei Volksentscheiden Abstimmungsbüchlein verteilt, in denen die verschiedenen Argumente aufgeführt werden. Oft wird direkte Demokratie diskutiert, als sei sie ein institutionalisierter Stammtisch. So muss und darf es ja gar nicht laufen.
Warum ist man nicht schon eher auf Bürgerbeteiligung gekommen?
Unsere politischen Institutionen sind etwa 60 Jahre alt. In jener Zeit haben etwa fünf Prozent eines Jahrgangs Abitur gemacht. Heute sind es 50 Prozent. Damals gab es als Informationsmöglichkeiten ein paar Zeitungen. Inzwischen gibt es nicht nur viele Zeitungen und Zeitschriften sondern auch Funk, Fernsehen, Internet. Alle wichtigen Informationen können Sie sich in kürzester Zeit beschaffen. Die Menschen heutzutage sind in einem ganz anderen Zustand. Sie trauen sich Entscheidungen zu und man darf ihnen diese Entscheidungen auch zutrauen.
Schlechte Gesellschaft
Christoph Butterwegge über Politik und Entpolitisierung – Thema 09/13 Welche Wahl
Wahl der Qual
Die Bundestagswahl wirft ihre Schatten voraus – THEMA 09/13 WELCHE WAHL
Leider verwählt ...
Über Talkshows, Hütchenspiele und frisch gepresste Thronfolger Thema 09/13 Welche Wahl
„Die Diskussion steht mir bis hier“
Im exklusiven engels-Sommerinterview spricht die fast originale Angela Merkel über heikle Themen – Thema 09/13 Welche Wahl
„Jedes Land macht sein eigenes Europa“
„Kursbuch“-Herausgeber Armin Nassehi über die europäische Öffentlichkeit – Thema 09/13 Welche Wahl
„Demokratie ist manchmal wie Hausarbeit“
Hermann Ott über Licht- und Schattenseiten im Parlamentarismus – Thema 09/13 Welche Wahlen
Ein Zeichen setzen
Prominente Stimmen aus dem Tal über die Bundestagswahlen im September – Thema 09/13 Welche Wahl
„Verdrängung aus dem Lebensstil“
Soziologe Jörg Blasius über Gentrifizierungs-Mythen
„Auch finanzschwache Interessen hören“
Politikwissenschaftler Leonce Röth über fehlende Lobby-Kontrolle
„Manche Flächen sind tabu“
NABU-Referentin Julia Mußbach über Hochwasser-Prävention
„Sie sehen sich selbst als Erwachsene“
Soziologe Aladin El-Mafaalani über junge unbegleitete Geflüchtete
„Die Anlage muss zum Abfall kommen“
Umweltexperte Martin Wittmaier über Müllvermeidung im Meer
„Nur Ablenkung von der anstehenden Aufgabe“
Hans-Jochen Luhmann vom Wuppertal Institut über den Klimawandel
„Keine Rücksicht auf die Ewiggestrigen“
Christine Mayr-Lumetzberger über katholische Priesterinnen
„Machtinteressen erweitern den Verteidigungsbegriff“
Jürgen Grässlin von „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ über Auslandseinsätze der Bundeswehr
„Leitkultur bedeutet Unterwerfung“
Historikern Claudia Weber über die Bedeutung von Kultur in Europa
„Der Mensch trägt Verantwortung für seine Taten“
Publizistin Liane Bednarz über das christliche Menschenbild und die Abtreibungsparagrafen
„Urbanes Leben findet statt, wo Menschen zu Fuß gehen“
Der Physiker und Philosoph Karlheinz Steinmüller über vertikalen Verkehr
„Geburtshilfe, weg von einem rigiden Regelkorsett“
Die Hebamme und Autorin Jana Friedrich über Zeitdruck in der Geburtshilfe
„Radikale Forderungen. Friedlicher Protest“
Menschenrechtsaktivistin Linda Poppe über legitimen Widerstand und den Hambacher Forst
„Verantwortungskultur der Konsumenten“
„Ökonaut“ René Tettenborn über genossenschaftliche Landwirtschaft
„Die Zivilgesellschaft kann eine ganz aktive Rolle spielen“
Misereor-Referentin Kathrin Schroeder über Rohstoff-Abhängigkeiten der Energie-Branche – Thema 10/18 Dezentrale Energien
„Es gibt keine soziale Mehrheit im Bundestag“
Linken-Politikerin Sevim Dağdelen über die Sammlungsbewegung #Aufstehen
„Viele wissen nicht, wofür die Linkspartei steht“
Der Soziologe Klaus Dörre über Linksvisionen in der deutschen Politik
„Den Marktmechanismus bewusst unterbrechen“
Ökonomin Nora Szech über fair gehandelte Produkte und seriöse Siegel