Ob in Rom, Florenz oder Mailand: Auf den Plätzen italienischer Großstädte standen (bis zur Corona-Epidemie) die Menschen dichtgedrängt zusammen – wie Sardinen in der Dose – um gegen die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft zu demonstrieren. Will man die politische Gegenwart verstehen, lohnt sich ein Blick auf die Sardinen-Bewegung gleich aus zwei Gründen.
Zum einen reiht sich die Bewegung in eine Folge neuer politischer Bewegungen ein. Angefangen mit Occupy Wall Street, über die Gelbwesten in Frankreich bis hin zu Fridays for Future, ploppen sie immer öfter in der westlichen Welt auf. Die Sehnsucht nach neuen Formen politischer Teilhabe ist so groß wie nie. Während der Handlungsspielraum nationaler Parlamente in einer globalisierten Welt zur vielzitierten Alternativlosigkeit zusammenschrumpft, stehen die neuen Foren für politischen Aufbruch. Die Fragen, mit denen alle diese Bewegungen konfrontiert sind, lauten aber: Wie lassen sich ihre Ideen in politische Formen gießen? Wie lässt sich dabei die Dynamik der Bewegung aufrechterhalten? Die Occupy-Bewegung hat mit dem Nachlassen der Finanzkrise schnell an Zulauf verloren. Die Gelbwesten werden zwischen den politischen Lagern aufgerieben. Und selbst Fridays for Future steht ein Jahr nach ihrem furiosen Aufstieg vor einem Dilemma: Zwar wird der Klimawandel wieder diskutiert, politische Konsequenzen hat das bisher aber kaum. Auch die Sardinen-Bewegung wird sich dieser Problematik stellen müssen.
Zum anderen sind die Sardinen, wie alle jüngeren politischen Bewegungen, Kinder des Internets. Anfangs, als Matteo Salvini für Januar eine Wahlkampfveranstaltung in Bologna anberaumte, waren es vier Freunde, die sich fragten, was sie gegen die rechtspopulistische Politik der Lega tun könnten. Auf Facebook organisierten sie spontan einen Flashmob als Gegenveranstaltung – 15.000 Menschen kamen so zusammen. Das Beispiel zeigt: den schwerfälligen Mühlen demokratischer Institutionen stehen mit Facebook, Twitter und Co. nunmehr Kommunikationsräume entgegen, in denen rasend schnell Informationen verbreitet werden und in denen politische Mobilisierung so gut wie nie zuvor funktioniert. Diese digitalen Kommunikationsräume haben aber auch ihre Schattenseiten: rasend schnell lassen sich nicht nur Flashmobs auf die Beine stellen, sondern auch Fake News in die Welt setzen. Die Algorithmen der großen Player sind darauf ausgerichtet, ihre Nutzer emotional zu triggern, und so immer länger an die Plattformen zu binden. Nicht der sachlich ausgewogene Debattenbeitrag wird in die Feeds gespült, sondern der kontroverse Aufschrei. Das Ergebnis sind Shitstorms und immer größere Gräben, die sich durch die politische Landschaft ziehen. Nicht zufällig ist auch Pegida Ausdruck der jüngsten Konjunktur politischer Bewegungen.
Gerade auch gegen diesen Populismus in den sozialen Netzwerken richtet sich der Protest der Sardinen. Nur: Ohne Facebook und Co. sind solche Bewegungen heute undenkbar. Sie sind vielmehr Ergebnis des medialen Wandels. So hat die Facebook-Gruppe der Bewegung mittlerweile über 200.000 Mitglieder – ein Paradoxon. Doch vielleicht wird ein Ergebnis dieser anti-populistischen Bewegung die Einsicht sein, dass es digitale Plattformen braucht, die den Emotionshaushalt ihrer Nutzer nicht ausbeuten, die strukturell nicht auf Polarisierung, sondern auf Dialog aufbauen. So könnten sich die Sardinen von dem emanzipieren, was sie groß gemacht hat. Schon die 68er wussten: Das Aufbegehren gegen die Eltern kann heilsam sein.
Dein Wille Geschehe - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
idpf.eu | Das Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal forscht über demokratisches Verhalten.
netzwerk-buergerbeteiligung.de | Das Netz zielt auf die breite Einbindung von Bürger:innen in die politischen Prozesse.
wuppertalbewegung.de | Der Verein „von Bürgern für Bürger“ hat sich pragmatische politische Ziele auf die Fahne geschrieben, z.B. die Nutzbarmachung der Nordbahntrasse.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mit gutem Beispiel
Intro – Demokratie
Stadtentwicklung in Bürgerhand
Die Wuppertalbewegung
„Solche Bewegungen entstehen in Krisen“
Historiker Ralf Hoffrogge über öffentlichen Protest
Erschreckende Eruption der Egos und Emotionen
Meinungen mit Fäusten vertreten, nicht mit Argumenten
Straße der Bürger:innen
Rot-grüner Partizipations-Test in Wien – Europa-Vorbild: Österreich
Wie die AfD stoppen?
Teil 1: Leitartikel – Plädoyer für eine an den Bedürfnissen der Mehrheit orientierte Politik
Keine Panik!
Teil 2: Leitartikel – Angst als stotternder Motor der Vernunft
Angst über Generationen
Teil 3: Leitartikel – Wie Weltgeschehen und Alltag unsere Sorgen prägen
Ist Schönheit egal?
Teil 1: Leitartikel – Zwischen Body Positivity und Body Neutrality
Im Namen der Schönheit
Teil 2: Leitartikel – Über körperliche Wunschbilder und fragwürdige Operationen
11 Millionen Eitelkeiten
Teil 3: Leitartikel – Fitnessstudios: zwischen Gesundheitstempeln, Muckibuden, Selbstverliebtheiten und Selbstgeißelung?
Armut ist materiell
Teil 1: Leitartikel – Die Theorie des Klassismus verkennt die Ursachen sozialer Ungerechtigkeit und ihre Therapie
Allergisch gegen Allergiker
Teil 2: Leitartikel – Für gegenseitige Rücksichtnahme im Gesellschaftsbund
Ungeschönte Wahrheiten
Teil 3: Leitartikel – Rücksicht zu nehmen darf nicht bedeuten, dem Publikum Urteilskraft abzusprechen
Wem glauben wir?
Teil 1: Leitartikel – Von der Freiheit der Medien und ihres Publikums
Demokratische Demut, bitte!
Teil 2: Leitartikel – In Berlin versucht der Senat, einen eindeutigen Volksentscheid zu sabotieren
Bröckelndes Fundament
Teil 3: Leitartikel – Was in Demokratien schief läuft
Wo komm ich her, wo will ich hin?
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch zwischen Prägung und Selbstreifung
Es ist nicht die Natur, Dummkopf!
Teil 2: Leitartikel – Es ist pure Ideologie, unsere Wirtschafts- und Sozialordnung als etwas Natürliches auszugeben
Man gönnt anderen ja sonst nichts
Teil 3: Leitartikel – Zur Weihnachtszeit treten die Widersprüche unseres Wohlstands offen zutage
Wessen Freund und Helfer?
Teil 1: Leitartikel – Viele Menschen misstrauen der Polizei – aus guten Gründen!
Missratenes Kind des Kalten Krieges
Teil 2: Leitartikel – Die Sehschwäche des Verfassungsschutzes auf dem rechten Auge ist Legende
Generalverdacht
Teil 3: Leitartikel – Die Bundeswehr und ihr demokratisches Fundament
Champagner vom Lieferdienst
Teil 1: Leitartikel – Vom Unsinn der Debatte über die junge Generation