Die Prinzessinnengärtner am Berliner Moritzplatz sind sicher die bekanntesten Trendsetter. Gemüse und Kräuter mitten in der Stadt selbst anzubauen – teilweise auf Brachflächen und sogar Parkdecks – ist in zwei Jahren zum bundesweiten Boom geworden: Städter gründen Bürgergärten, mieten sich auf landwirtschaftlichen Parzellen ein und entern wieder die Kleingartenanlagen in den Bezirken. Neben der Lust am ökologischen Experiment und einer bescheidenen Selbstversorgung spielen auch pädagogische Aspekte eine Rolle. Kindern wird quasi nebenbei vermittelt, dass „Gemüse nicht einfach im Supermarkt wächst.“
Letztere Erkenntnis könnte jedoch bald wieder eine Korrektur erfahren. Mitten im Ruhrgebiet arbeitet ein Forscherteam des Fraunhofer-Institutes für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik („Umsicht“) daran, Ballungsregionen ohne Mehrverbrauch von Flächen und Energie zu grünen Gemüseerzeugern zu entwickeln. Im Blickpunkt liegen vor allem brache Dachflächen von Gewerbebauten, unter anderem auch von Supermärkten. „Wir haben mit entsprechenden Unternehmensketten gesprochen“, berichtet Simone Krause, die mit Volkmar Keuter das Fraunhofer-Projekt leitet, „und die fanden die Idee total spannend.“ Inzwischen ist eine Machbarkeitsstudie in Arbeit, die gerade in den letzten Zügen liegt und im Frühsommer präsentiert werden soll.
Das international vernetzte Umsicht-Team hat dabei nicht bloß die Versorgung des Reviers mit Porree, Paprika und Petersilie im Kopf. Sein Ansatz zielt ein gutes Stück höher, denn weltweit wächst die Zahl der Ballungsgebiete und Mega-Städte, in denen inzwischen die halbe Menschheit lebt. Unbebaute Flächen und Grüngebiete sind hier rar, fast jedes Lebensmittel muss über weite Strecken hergeschafft werden. Das erzeugt reichlich Verkehr und CO2-Ausstoß. Die Kosten hierfür steigen nach einer Erhebung der Welthungerhilfe gerade in den ärmsten Ländern rasant. Ein globales Problem also, und so wundert es kaum, wenn die Oberhausener ihr Projekt inzwischen auch auf Foren und Symposien in Vietnam und Tokio vorstellten.
Die Saat zum Ausprobieren soll nun an der Ruhr gelegt werden. In Duisburg unterhält Fraunhofer bereits das „inHaus-Zentrum“ als die „in Europa führende Innovationswerkstatt für intelligente Raum- und Gebäudesysteme“. Dort entstand die Idee fürs „Rooftop-Farming“, grüne Dach-Gemüsegärten unter Glas. Der amerikanische Partner BrightFarm Systems, der im letzten Sommer bereits einen solchen Prototypen in New York City startete, steht mit am Beet. Die Ertragserwartungen seien dort respektabel, sagt Simone Krause: „Auf etwa 1.000 Quadratmetern Fläche kann man jährlich etwa 45.000 Kilo Gemüse heranziehen. Das entspricht der Menge, die ungefähr 4.000 Menschen verbrauchen.“ Ein anderes Projekt – „Better Food Solutions“ – wird auf größerer Fläche gar mit 320 Tonnen Ernte veranschlagt – und mit Verkaufserlösen von fast zwei Millionen US-Dollar.
Freilich muss man sich von bekannten Ackerbau-Vorstellungen ein gutes Stück verabschieden. Salatköpfe und andere Pflanzen wurzeln nicht in traditioneller Erde, sondern in Rinnensystemen, durch die mit Nährstoffen angereichertes Wasser fließt. Diese haben es allerdings in sich: Den Forschern schwebt nämlich vor, den organischen Dünger aus Abwässern des jeweiligen Gebäudes herauszufiltern. Das Wasser selbst soll in geschlossenen Kreisläufen zirkulieren, so wie man übrigens auch die Abwärme der Gebäude für den Pflanzenwuchs nutzen will. Über LED-Beleuchtung mit verschiedenen Wellenlängen könnte man nach Fraunhofer-Ansicht „selbst im Winter produzieren.“
Was allein in Deutschland möglich wäre, hat das Fraunhofer-Team in einer stillen Stunde hochgerechnet: Aus einem Bestand von 1.200 Millionen Quadratmetern an Flachdächern auf Nicht-Wohngebäuden könnte womöglich ein Drittel für den Pflanzenanbau unter Glas genutzt werden – sofern die Statik stimmt und nicht andere Lösungen wie etwa Solarstromerzeugung damit konkurrieren. Allein die CO2-Bindewirkung würde 28 Mio. Tonnen im Jahr betragen.
Bleiben noch Geschmacksfragen, denn Treibhausgemüse haben die Verbraucher jahrzehntelang als Ergebnis dessen kennengelernt, was Spötter als die Kunst bezeichnen, Wasser schnittfest zu gestalten. Grundsätzlich möchte man, kontert Simone Krause, dass auf diese Weise „ökologische und qualitativ hochwertige Lebensmittel entstehen. Wir wollen schon besser sein als die Gewächshaustomate aus Holland.“
Einmal in Fahrt fallen ihr außer der Frische und gesparten LKW-Touren noch weitere Pluspunkte ein, die am Ende wieder an die Bürgergärten ankoppeln: „Solche Dachgärten wären nicht nur touristisch interessant, sondern auch sozial nachhaltig. Denken Sie an eine mögliche Funktion als Bildungsprojekte. Oder daran, dass ältere Menschen mit der gemeinschaftlichen Bewirtschaftung solcher Gemüsegärten auf den Flachdächern von Pflegeheimen eine neue Aufgabe finden könnten.“
Von dem Abschluss der Machbarkeitsstudie erhofft sich das Fraunhofer-Team weitere Erkenntnisse und: Fördermittel. Zur Düngung des Duisburger Pilotprojektes liegt inzwischen ein Förderantrag beim Wissenschaftsministerium vor.
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