Rechtsstaat ist anstrengend, heißt es mitunter kokett: Kindesentführern darf man nicht mit Folter drohen und auch Aktionen gegen extreme Parteien verlangen nach Regeln. Doch was, wenn seine Verbindlichkeit so sicher gar nicht ist? Die vermeintlich eherne Gewissheit, alles gehe mit rechten Dingen zu, ist sie brüchig, auch bei uns? Der von Experten am Abend in der Wuppertaler Bandfabrik vermittelte Eindruck war ziemlich erschreckend - am "Ja" ließ die Runde allerdings kaum Zweifel.
Der Abend, Teil des geselligen Formats „Am Küchentisch” mit Musik (heute Thomas Lensing) und leckerer Suppe, trug den Titel “Am Ende von Humanität und Rechtsstaatlichkeit?” und war vom Wuppertaler Friedensforum organisiert worden. Einen "Verlust an Vertrauen in die Politik" durch Zweifel am Rechtsstaat hatte die Ankündigung konstatiert - und man hätte damit rechnen mögen, der Abend werde da beruhigen. Das Motto: Diktaturen, zudem Donald Trump, bedrohen anderenorts den Rechtsstaat - aber das Quartett in dem Langerfelder Kulturort werde sich mit ihm und seiner Geltung hier versöhnen. Nein, das tat, das konnte es wohl nicht, denn die Schilderungen der Akteure, so verschieden ihre Ressorts auch sind, einte die Meinung: Die Rechtsstaatlichkeit ist, auch in Deutschland, in der Tat bedroht.
Staatsgewalt gegen Protest
Araz Ardehali Barani schilderte Erfahrungen aus seiner Arbeit für den Migrantenhilfsverband "Karawane", die sich wohl schwerlich rechtskonform nennen lassen. So sei einmal ein Flüchtling erkrankt, doch das für den Arztbesuch vorgeschriebene Dokument sei ihm mit der Aussage verweigert worden: "Du wirst eh' abgeschoben, du brauchst keinen Krankenschein." Der Mann sei daraufhin gestorben. Auch erwähnte er den bekannten Fall des aus Sierra Leone stammenden Oury Jalloh, der 2005 in Dessau in Polizeigewahrsam verbrannte; hier richtete sein Vorwurf sich auch an den Umgang mit Kritikern: "Wir wurden verprügelt, nur weil wir Fragen zu dem Fall gestellt haben.”
Zu Thema Staatsgewalt gegen Proteste hatte es nur Tage zuvor einen Aufhänger gegeben, den der Moderator und Theologe Rainer Möller auch benannte: In Köln war Ende August gegen den Rüstungskonzern "Rheinmetall" demonstriert worden, Zeugen beklagten Aggression durch die Polizei; Festgenommene werden jetzt zudem verklagt. "Ein gängiges Muster", kommentierte Andrea Groß-Bölting, eine Rechtsanwältin, die dem Abend mit dem Gewicht ihres Fachhintergrunds generell noch einen Schub an Dringlichkeit gab.
Systematisches Unrecht
Die Sozialarbeiterin Maria Shakura sprach über ihren Einsatz für das Recht auf Familiennachzug. Auch ihr Befund, obwohl ruhig vorgetragen, sparte nicht mit Vehemenz: "Familien zu trennen, galt lange als rote Linie" - heute sei es "zur Regel geworden". Auch sie nannte als Beispiel das Verhalten von Kritikern, speziell, wenn es rund um den Gazakrieg geht. "Eines Besseren belehrt" sah sie sich mit ihrer einstigen Überzeugung, man dürfe hierzulande Meinungen äußern, die auf Standards pochten - wie etwa, dass man "Kindern nicht in den Kopf schießt" und "Journalisten nicht gezielt tötet". "Es reicht zu sagen, dieser Mensch ist ein Terrorist. Dann hat er das Recht auf Leben verwirkt.”
Strafverteidigerin Groß-Bölting sprach von "systematischem Unrecht" bei der Anerkennung oder Ablehnung als Asylbewerber. Wie man heraushören konnte, geht sie dann gerne dazwischen - mit der Botschaft an die Richter: "Ich lasse euch nicht aus der Verantwortung." Das klang nicht eben danach, dass Rechtsstaatlichkeit ein bequemer Selbstläufer sei, auf den man sich leichthin verlassen könne. Erschreckend auch war ihre Feststellung: “Die Verwaltung hält sich nicht an Urteile - und scheint oft sogar stolz darauf.” Wie Urteile ignoriert werden, zeigt eine prominentes Beispiel auf Regierungsebene: Bundesinnenminister Dobrindt hat bekanntlich auf Grenzkontrollen beharrt – offenbar unbeeindruckt von geltendem Recht.
"Das Konzept 'Rechtsstaat' wird gekapert", hatte die Anwältin schon eingangs pointiert hervorgehoben und dessen Ursprung so erläutert: "Es steht für die Bindung von Macht an Recht. Ein Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat." Ernüchternd bis frappierend war ihr Verweis auf das Prinzip "Feindstrafrecht": Wer als Gegner des Systems gelesen werde, habe dort garantierte “Rechte nicht verdient". Zwar fand diese Unperson-Denke bei der Fachfrau nicht nur Ablehnung, sondern auch Einordnung: "Das lässt sich aus dem Grundgesetz nicht herauslesen", doch hat es ihr zufolge in der juristischen Szene tatsächlich Fürsprecher. Ihre Warnung: "Wenn man einmal diese Tür öffnet, wird es ausgeweitet.”
“Ausprobieren” an Migranten
In eine ähnliche Richtung ging schließlich auch eine Stimme aus dem Publikum, das auch sonst viel zum Abend beitrug. In den Achtzigern laut Eigenbekunden selbst aus einem autoritären Staat zugewandert, äußerte eine Frau Sorgen über eine Abwärtsentwicklung - nachdem sie Deutschland damals für seine Standards geschätzt habe. In ihrer düsteren Prognose (ihr "uns" meinte Migranten) klang sie so alarmiert wie die Anwältin: "Alles wird zuerst an uns ausprobiert." Wozu sie als Beispiel einen Bogen von der Residenzpflicht von Zugewanderten zu neuen Vorstößen zog, sowie generell für Empfänger von Sozialleistungen etwa Meldepflichten zu verschärfen. Prägnant war schließlich auch das Urteil einer Zuschauerin aus der Politik: Christiane Bainski, einst für die Grünen fünf Jahre als rechtspolitische Sprecherin im NRW-Landtag tätig, konstatierte nun, und viel niederschmetternder geht es eigentlich nicht: “Ich habe den Glauben in den Rechtsstaat verloren.”
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