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Bis ihre eingestürzte Schule neu aufgebaut ist, werden die Kinder aus dem Bergdorf Coupeau im Zelt unterrichtet
Foto: Nely Pohl

„Hey Weißer, wir haben Hunger!"

16. Februar 2011

Eine Reportage aus Haiti: Über den Neubau einer eingestürzten Schule in den vergessenen Bergen, über einwillige Hilfe aus Deutschland - Ungeschminkt 09/10

Als wir das schwere Eisentor vor unserem Haus zur Seite schieben, nickt unser haitianischer Sicherheitsmann freundlich. Dann studiert er weiter die Bibel. Neben ihm lehnt ein großkalibriges Gewehr. Es ist fünf Uhr morgens, die Hauptstadt Port–au-Prince erwacht. Wir sind auf dem Weg in das Bergdorf Coupeau, wo mit Geld der deutschen Kindernothilfe eine eingestürzte Schule neu gebaut wird. Ich begleite den Haiti-Koordinator des christlichen Hilfswerks, Jürgen Schübelin, und den chilenischen Architekten Alvaro Arriagada. Unser Geländewagen passiert den Stadtteil Carrefour. Haiti ist tief verwundet, nicht erst seit dem verheerenden Erdbeben Mitte Januar 2010, das mehr als 250.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Straße ist aufgeplatzt wie eine Eiterblase, der Bauschutt türmt sich meterhoch. Es riecht nach Urin und Abfall. Auf dem Mittelstreifen der verstopften Hauptstraße leben Familien in notdürftigen Verschlägen mit Plastikplanen. Kinder spielen in ausgebrannten Autowracks. Der Staub Tausender eingestürzter Häuser liegt wie Nebel über der Stadt. Wenn es eine Vorhölle gibt, dann ist hier ein Eingang. Die Räder des Jeeps vor uns versinken in einem Loch mit gelbgrünem Wasser. Auf der Heckscheibe steht in großen Buchstaben „Thank you, Jesus!“

Die Dorfbewohner transportieren Zement und Eisenträger zu Fuss in die Berge

Mit einem Übersetzer treten wir dann unseren dreistündigen Fußmarsch an. Die Auf- und Abstiege steiler Bergwege sind beschwerlich. Der Fluss, den wir mehrfach durchqueren, ist so reißend, dass wir uns an den Händen halten müssen. „Die Herausforderung hier in Coupeau ist die Logistik, nicht das Bauen. Die Dorfbewohner transportieren jeden Sack Zement, alle Eisenträger und Sand zu Fuß aus der Stadt in die Berge“. Alvaro Arriagada weiß, wovon er spricht, einmal wöchentlich geht er diesen Weg, um drei Tage in dem Dorf zu arbeiten. „Hey, Weißer, wir haben Hunger!“ Immer wieder werden wir so von Haitianern angesprochen, selbst von einem Lebensmittelhändler. Alvaro Arriagada antwortet freundlich, dass er gekommen sei, um Menschen mit seiner Arbeitskraft zu unterstützen, nicht aber um Almosen zu verteilen. Als wir bei mittlerweile vierzig Grad im Schatten Coupeau erreichen, ist die Freude groß über unsere Ankunft. Der Lehrer lässt seine Schüler ein Begrüßungslied anstimmen. Unterrichtet werden die 70 Schüler seit dem Beben in einem orangefarbenen Zelt, direkt neben der Baustelle. „Als wir zum ersten Mal in die Berge hochgestiegen sind, fanden wir eine Gemeinde vor, in der niemand auch nur eine Minute in einer Schule verbracht hatte.“ Jürgen Schübelin nimmt einen tiefen Schluck aus der Wasserflasche. Für ihn ist es eine Herzensangelegenheit, dass die kleine Schule neu gebaut wird. Für etwa 25.000 Euro entstehen zwei Klassenräume, ein Lehrerzimmer mit kleiner Bibliothek, Toiletten und eine Zisterne, um Regenwasser aufzufangen. So weit die Wünsche der Dorfbewohner, die Alvaro Arriagada in Dorfversammlungen zusammengetragen hat. Der 28jährige Architekt ist Experte für erdbebensicheres Bauen – und für Gemeindearbeit, für die Prozesse also, wie gebaut wird. Gemeinschaftsarbeit, ökologisch, nachhaltig, dezentral: Die Kindernothilfe geht einen eigenwilligen Weg der Unterstützung in Haiti, jenseits von Bevormundung und Alimentierung zumeist großer Hilfsorganisationen, die bestehende Abhängigkeiten so festschreiben. Gebaut wird mit heimischen Materialien, so weit es geht ohne Holz, bewusst in der vergessenen Peripherie. Das Herzstück dieses Modellprojekts, das die Dorfbewohner letztlich in die Selbstbestimmung entlassen soll, ist das Combitsystem. Eine haitianische Tradition, bei der Nachbarn Wohnhäuser, Kirchen und Schulen gemeinsam bauen. Auch hier in Coupeau bedeutet Combit den Verzicht auf Geld für geleistete Arbeit. Für alle, die mithelfen, beginnt der Tag morgens um vier mit einem gemeinsamen Frühstück, danach wird hart gearbeitet, am Abend gibt es ein Fest mit warmer Mahlzeit.

Mit dem Beben war auch die Hoffnung auf Perpektive eingestürzt

Umringt von neugierigen Kindern diskutiert Alvaro Arriagada mit einem Arbeiter die Schritte der nächsten Tage. „Der Boss“, wie sie ihn hier alle nennen, leitet die täglichen Bauarbeiten. Auf seinem verschwitzten Shirt steht: „Wenn unsere Kinder nicht lesen können, wie sollen sie dann wissen, was in der Welt passiert“. Der chilenische Architekt berät den Boss, wie er die Schule bauen muss, damit sie dem nächsten Erdbeben trotzen kann. Mehr Zement und weniger Sand für die Steine, die sie hier oben in Coupeau selbst pressen; mehr Eisenträger für die Säulen; Eisenträger auch für die Rahmen unter dem Dach, und vor allem eine andere Dachkonstruktion. Alvaro Arriagada ergänzt: „Wer bei leichten Wänden schwere Dächer aus Beton baut, riskiert, dass das Gebäude einstürzt.“ Der Boss gibt das Wissen dann an diejenigen weiter, die ihr eingestürztes Haus selbst neu bauen wollen. So weit der Plan des deutsch-chilenischen Teams. Weil mit dem Beben Mitte Januar auch die Hoffnung der Dorfbewohner auf Perspektive eingestürzt war, die Hoffnung auf Bildung für ihre Kinder, sieht Jürgen Schübelin seinen Architekten auch als Therapeuten. Der sagt selbst: „Das Wichtigste für die Menschen ist, Vertrauen wiederzuerlangen. In ihre Kraft, ihre Fähigkeiten und in die Stabilität der Gebäude.“ Sie sprechen viel mit den Bewohnern von Coupeau, legen großen Wert darauf, lokale Akteure einzubeziehen – die Lehrerin und den Lehrer, die hiesige Organisation, die schon lange vor ihrer Ankunft mit den anderen Schulen in den Bergen arbeitet, die Bewohner anderer Bergdörfer, die vorbeikommen und Fragen zu dem Schulneubau stellen. „Wenn Hilfsorganisationen immer nur Geschenke aus schönen Jeeps und aus Hubschraubern verteilt haben, können sie nicht erwarten, dass die Menschen interessiert sind, Aktivitäten und Selbsthilfekultur an den Tag zu legen.“ Jürgen Schübelin spricht leise, aber eindringlich. „Wir verstehen dieses Projekt als politisches Signal. In Haiti wird es keine Perspektive zur Überwindung von Armut geben, ohne dass die vergessenen Menschen in abgelegenen Gebieten ein Selbsthilfepotenzial entwickeln.“ Als er sich kurz vor unserem Rückweg in die Zivilisation bei den Kindern für ihren schweißtreibenden Einsatz bedankt, sagt die zwölfjährige Natascha: „Ihr müsst nicht Danke sagen, es ist schließlich unsere Schule.“

OELE SCHMIDT

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