Die Wissenschaft ist für die Politik eine Art Kompass, der unverbindliche Handlungsempfehlungen aufzeigt. Mit der Betonung auf unverbindlich – es passiert nämlich nicht selten, dass die Politik abseits der wissenschaftlichen Erkenntnispfade wandelt: aktuell beim Klimapaket ganz brisant vorgeführt. Bei Anne Wills Talkrunde, wenige Tage nachdem die Ergebnisse des Klimakabinetts veröffentlicht wurden, verkörperten der Wirtschaftsminister Peter Altmaier auf der einen – und Ottmar Edenhofer, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung auf der anderen Seite, diese Diskrepanz. Der eine postulierte, wissenschaftlichen Berechnungen zufolge benötige es einen CO2-Einstiegspreis von mindestens 50 Euro, der andere beharrte auf einem Anfangspreis von 10 Euro pro Tonne. Herrn Edenhofers fehlender Durchsetzungsfähigkeit kann kaum dem geschuldet sein, dass ihm die richtigen Kontakte fehlten. So beriet er doch höchst persönlich die Kanzlerin. Nun kann man sich fragen, warum die Übersetzung von Wissenschaft in Politik nicht widerstandslos geschieht. Das liegt wohl einerseits daran, dass die Politik auch Fragen der Umsetzbarkeit mit im Blick haben muss und andererseits, dass es in der Gesellschaft auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen zuwiderlaufende Interessen gibt. Angela Merkel sprach im Zuge des Klimapakets davon, Politik verkörpere das „Mögliche“ und unterscheide sich dadurch von der Wissenschaft und auch von „ungeduldigen junge Menschen“.
Forscher der Universität Bremen haben eine ähnliche Beobachtung im Bereich der Agrarpolitik gemacht und wollten wissen, wie es dazu kommt, dass offensichtliche Probleme seit Jahren nicht angegangen – und Entscheidungen getroffen werden, die im Widerspruch zu wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Die Vermutung: irgendwo im Entscheidungsprozess muss es, je nach Perspektive, Stör- oder Ablenkungsfaktoren geben. Die süße Versuchung zwischen Politik und Wissenschaft bilden Interessenvertreter – die sogenannten Lobbyisten. Sie sind ein Grund dafür, dass der politische Prozess aus Sicht der Bürger oftmals als Black Box erscheint, das heißt, dass von außen betrachtet nicht zu durchschauen ist, wie politische Entscheidungen tatsächlich zustande kommen. So ist es zum Beispiel nirgends dokumentiert, wann, wo und vor allem mit wem Politiker zu Mittag essen. Der Beruf des Lobbyisten hat hierzulande keinen guten Ruf, was zu einem großen Teil an der Intransparenz der Lobbyarbeit liegt – es ist eine Form der Mitwirkung an der Gesetzgebung, die, wenn überhaupt, nur indirekt durch Gesetze geregelt ist. Zudem schüren Berufswechsel zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Nebentätigkeiten von Abgeordneten das bestehende Misstrauen. Lobbyarbeit ist aber keineswegs nur schlecht – ganz im Gegenteil: Sie ist essentiell um das Funktionieren unseres Systems zu gewährleisten und elementarer Bestandteil von pluralistischen Demokratien. Ohne die externe Expertise von Lobbyisten würde unsere Gesetzgebung zum Erliegen kommen. Zudem wird durch die Einbindung von Interessengruppen auch die Legitimität einer Entscheidung gefördert. Allerdings nur insofern, als dass die Möglichkeiten der Einwirkung ansatzweise gleich verteilt sind. Und das ist die Crux der Sache: Einflussnahme ist abhängig von Ressourcen.
Zurück zu den Forschern in Bremen. Bei ihrer Suche nach etwaigen Hindernissen auf dem Weg zu progressiven Entscheidungen sind sie darauf gestoßen, dass es zwischen den Bereichen Finanzwirtschaft, Agrochemie, Agrar- und Ernährungswirtschaft und Verbänden mehr als 500 personelle und institutionelle Verflechtungen gibt. Zugang heißt nicht gleich Einfluss, aber erstaunlich ist die Zahl allemal. Also: mit Vorsicht genießen, aber doch mal auf der Zunge zergehen lassen.
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