Als Kind hat der Autor dieser Zeilen gelernt: Du gehst zum Arzt und sagst: „Mach das weg!“ Und ja: Ob Bauchweh, Fieber oder Zahn – alles hat er weggemacht. Als Teenager empfindet der Autor die Umschreibung „Götter in Weiß“ irgendwie passend, Anfang 20 versteht er, dass das ironisch gemeint war. Später im Leben führt sein Zahnarzt teure Eingriffe durch, die sich als unnötig herausstellen. Woanders verlässt eine Bekannte die Klinik aufgrund eines Behandlungsfehlers querschnittsgelähmt. Seine Hausärztin, die Antibiotika möglichst vermeidet, ist Schulmedizinerin und bleibt bis heute erste Anlaufstelle. Zugleich öffnet sich der Autor auch für Alternativen: Ein Osteopath behandelt seine Kniezerrung, eine Heilpraktikerin kuriert seine schmerzhafte Schulterverspannung mit einer einzigen gründlichen Stoßwellenbehandlung. Homöopathie bleibt ihm zu abstrakt. Seine Hausärztin unterstützt die Entscheidung für den Osteopathen. Sein Chirurg tut dies nicht, er erachtet Osteopathie als unseriös. Der Autor erachtet IGeL-Leistungen als unseriös.
Nun, das Angebot des Gesundheitswesens ist so vielfältig wie die Wunder und Patzer, die alle beteiligten Gewerke vollbringen. Die Schulmedizin scheint dabei besonders unter Druck, wenn sie denkt, der zunehmend beliebtere alternative Zweig könnte ihr Rang und Profit ablaufen. Umso verhärteter besteht sie auf ihre durch Numerus Clausus, Approbation und Doppelblindstudien legitimierte Vormachtstellung. Immerhin: Jenseits der Fronten gibt es auch Ärzte, die ergänzend auf Alternativmedizin zurückgreifen – was tatsächlich zum Selbstverständnis der Naturheilkunde zählt: Ganzheitlich erfassen, ergänzend therapieren.
Fürsorglich mit sich selbst umgehen
Statt konstruktiv zum Wohle des Patienten die Annäherung zu suchen, fordern lautstarke Konservative derweil die evidenzbasierte Norm: einen verpflichtenden Nachweis für Therapiewirksamkeit, der auf empirischen, klinischen Studien fußt. Studien, die den ganzheitlichen Ansatz alternativer Heilkunde völlig ausblenden. Studien, die der Komplementärmedizin bisher kaum zur Verfügung stehen: „Nur 0,01 Prozent der insgesamt in der Medizin aufgewendeten Forschungsgelder fließen in Studien zur Naturheilkunde“, heißt es noch 2019 auf aerztezeitung.de. Abgesehen davon sind viele schulärztliche Anwendungen nicht evidenzbasiert nachweisbar – und trotzdem längst etabliert.
Der Industrie, die ja letztlich hinter allem und so ziemlich jedem Arzt steckt, ist das vermutlich einerlei: Mit Zucker kann man ebenso Geld verdienen wie mit Kariesprophylaxe, Pharmaprodukt oder Pflanzensubstrat. Jeder Mensch ist wertvoll, erst recht, wenn er erkrankt. Da passt es natürlich nicht, wenn der Mensch auf die Idee kommt, fürsorglicher mit sich selbst umzugehen. Und Gott bewahre, Genesung wäre am Ende vornehmlich im reinen Glauben verankert!
Dabei kommt es längst schon auf den Glauben an – unterm Strich bildet doch hier wie dort der Gutglauben den Grundstein, sprich: das Vertrauen der Patienten zu ihrem Arzt und/oder Heilpraktiker. Und so hat bei allem Kompetenzgerangel am Ende der Patient selbst die Wahl – solang er es sich leisten kann. Doch Obacht: Naturheilkunde setzt auf instinktiv richtig geleitetes Verhalten unsereins, nicht nur im Krankheitsfall, sondern bereits bei Gesundheit. Genau damit könnte sich die Alternativmedizin am Ende selbst im Weg stehen. Dreimal darf man raten, wofür sich die Mehrheit von uns Wohlstandsprimaten am Ende entscheidet: für mehr Eigenverantwortung – oder für ein schnelles, wenn auch mal zu spätes „Mach das weg!“
Schmerzbetrug - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
www.naturheilbund.de | Der 1889 gegründete Dachverband deutscher Naturheilvereine vertritt als Laienverband die Interessen seiner Mitglieder in Gesundheitspolitik und -bildung.
www.dgpsf-verein.de | In der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung e. V. versammeln sich Psychologen, die im Schmerzbereich und in der Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen arbeiten.
www.schmerzgesellschaft.de | Die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. versteht sich als größte wissenschaftliche Schmerzgesellschaft Europas. Sie setzt sich ein für die Förderung von Schmerzforschung und -therapien.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Oh weh!
Intro – Schmerzbetrug
Gymnastik mit Gefühl
Der Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie Köln
Erste Hilfe beim Einstieg in den Ausstieg
Die Drogenhilfeeinrichtung Kick in Dortmund bietet Betreuung und Konsumräume
Die unterschätzte Gefahr
Das Blaue Kreuz Wuppertal zeigt Wege aus der Sucht
„Das sind keine ungefährlichen Substanzen“
Schmerzmittelforscher über Schmerzmittel im Hobbysport
„Schmerz hat einen Sinn“
Mediziner über Opioide in Deutschland
„Naturmedikamente sind nicht harmlos“
Mediziner Marc Werner über Naturheilkunde und Integrative Medizin
Aus Sicht des Betroffenen
Was kein Schmerz aushält – Glosse
Ibuprofen wie Smarties
Fatale Folgen bei unreflektiertem Umgang mit Schmerzmitteln
Auf Tilidin in die Charts
Ist der Hip-Hop schuld am wachsenden Medikamentenmissbrauch?
Drogenkranke nicht mehr kriminalisiert
25 Gramm Cannabis pro Person sind seit 2001 eine Ordnungswidrigkeit – Europa-Vorbild: Portugal
Glücklich erinnert
Teil 1: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Aus Alt mach Neu
Teil 2: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 3: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Stimmen des Untergangs
Teil 1: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 3: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 1: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen