Die Schweizer Band Lauwarm musste in diesem Sommer einen Auftritt abbrechen, weil sich Konzertgäste an den Dreadlocks und der Reggaemusik störten. Grund der Empörung: Kulturelle Aneignung. Als ich das hörte, dachte ich, echt jetzt? Was wollten die Leute denn hören und sehen? Alphörner und Männer in Schweizer Tracht? Reggae ist doch längst in Europa angekommen. Und Dreadlocks gab es auch schon bei den Wikingern; wo kamen die nochmal her – aus Jamaika? Ich fragte mich, ob diese Empörten die westafrikanische Band Dark Suburb ebenso boykottiert hätten. Mit ihrem Alternativ-Afro-Metall-Punk-Rock kehren die fünf Bandmitglieder aus Ghana die musikalischen Hörgewohnheiten gehörig um, die manch einer mit „afrikanischer Musik“ verbindet. Ihre Songs mit den rauen Riffs der Rockgitarre, dem temporeichen Takt des Schlagzeugs und der Klangvielfalt des Synthesizers haben allenfalls wenig gemein mit Fela Kuti, Burna Boy oder Shatta Wale. In Ghana wird die Band deswegen auch angefeindet – was ich genauso daneben finde. Dürfen afrikanische Bands keinen Indie-Rock spielen? Wer darf rechtmäßig Reggae, Soul, Gospel oder Blues performen? Was ist mit Mozart oder Brahms? Ist es nicht wunderbar, dass deren Musik auch im Kongo vom Orchestre Symphonique Kimbanguiste gespielt wird und dass auch Kinder in afrikanischen Ländern Klavierunterricht nehmen? Oder sollen die alle nur trommeln?
Bereichernd statt langweilig
Wenn irgendetwas Kulturen verbindet, dann doch Musik. Und Mode. Doch auch hier gibt es jene, die sich empören. Wer darf welches Outfit tragen? Ich kenne in Ghana niemanden, der im Bastrock herumläuft. Eine Folge der Kolonisierung, die dieses Kleidungsstück damals als primitiv bezeichnete – oder eine Folge der changing times? In einer globalisierten Welt ist es unvermeidlich, dass sich Bräuche, Kleidungsstile, Musikrichtungen, Essgewohnheiten vermischen, einander beeinflussen und bereichern. Was wäre das für eine langweilige Welt, wenn wir in Deutschland in allen Bereichen nur noch „typisch deutsches“ gelten ließen – was ist überhaupt „typisch deutsch“? Die Kartoffel? Stammt ursprünglich aus den Anden. Sauerkraut? Vermutlich aus China. Dirndl und Lederhose? Ja, vielleicht. Aber wer will täglich so gekleidet herumlaufen?
Afro-Dirndl und Dutch Wax Prints
Apropos Dirndl. Das Münchener Label Noh Nee vertreibt hübsche Afro-Dirndl, die in Benin gefertigt werden. Dahinter steckt der Verein The Project Justine, deren Gründerinnen zwei in Kamerun geborene Schwestern sind. Für ihre farbenfrohen Kleider erhielten sie 2017 den Innovationspreis Volkskultur, weil sie „eine unverwechselbare Verbindung zwischen der bayerischen und afrikanischen Kultur durch ihre außergewöhnlichen Kreationen“ schaffen, so die Begründung des Rats der Stadt München. Nebenbei: Die typischen afrikanischen Stoffe, die Menschen nicht nur überall auf dem Kontinent, sondern weltweit tragen, heißen auch Dutch Wax Prints und stammen ursprünglich aus Holland. Da wird es kompliziert mit Vorwürfen der kulturellen Aneignung.
Wir sollten uns stattdessen über alles freuen, was Menschen verbindet und Kulturen zusammenbringt. Ob es nun die Musik, die Mode oder die Kulinarik ist. Wir sollten die Vielfalt feiern, statt uns gegenseitig vorzuwerfen, jemand hätte dieses oder jenes geklaut. Wichtig ist dabei anzuerkennen wo die Dinge herkommen und sie wertzuschätzen. Deshalb, statt Empörung zu ernten sollten Fans der Genres sich sowohl an der Rockmusik von Dark Suburb, als auch an den Reggae-Riddims von Lauwarm erfreuen dürfen. Es ist in beiden Fällen Musik. Und die hat keinen „Besitzer“.
FREMDE BRÄUCHE - Aktiv im Thema
experiment-ev.de | Deutschlands älteste gemeinnützige Organisation für interkulturellen Austausch“ vermittelt Gastfamilienaufenthalte für Schüler, Studenten und Erwachsene.
via-bund.de | Der Verband für interkulturelle Arbeit e.V. versammelt bundesweit über 100 Organisationen, die in der Migrations- und Flüchtlingsarbeit aktiv sind.
ifa.de/foerderungen/elisabeth-selbert-initiative/ | Die 2020 gegründete Elisabeth-Selbert-Initiative, benannt nach einer der „Mütter“ des Grundgesetzes „bietet gefährdeten Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern einen sicheren Ort“.
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