„Heiho, Jörgensen, da bist du ja endlich wieder!?“Und hoch die Tassen. So geht es immer im„Encuentro“. Die Notwendigkeit, das Auskommen mit irgendwelchen Arbeitsaufträgen auf und für das europäische Festland zu sichern, sorgt für ein ständiges Kommen und Gehen unter den Homies. Und jedes Mal: Und hoch die Tassen.„Willkommen zurück in der Heimat!“Der Däne kippt Peps frisch Gezapftes in einem Zug.„Diese Plörre nennst du Heimat?!“Nicht ahnend, was er damit für eine Diskussion auslöst, setzt Stan zu einem seiner kruden Gedankensprünge an:„Home is where your heart lives!“–„Pah!“, geht Adolfo mal wieder steil,„Meine Heimat ist und bleibt Deutschland. Zuhause muss es heißen. Nicht Heimat. Hier ist er nur zuhause!”Die Einheimischen unserer Runde werden hellhörig. Ich frage mich, was ich zum Thema beisteuern könnte; außer dass ich meine Seele an den Fußballklub meiner Geburtsstadt verschenkt hab.
Spontan fällt mir Keith Richards‘ Kinderbuch „Gus & ich“ [Heyne, inkl. cd] ein: die wundersam »zartbesaitete« Geschichte des Stones-Gitarristen, wie ihm sein Großvater die Welt der Musik eröffnet. Eine universale Leidenschaft, ein mobiler Elfenbeinturm, in den man sich jederzeit und jeden Orts zurückziehen kann. / Von ähnlichen Heimatsehnsüchten sind die Jagdausflüge in das Territorium ihrer Ahnen beflügelt, zu denen Vater, Großvater sowie ein Freund der Familie den elfjährigen Erzähler in David Vanns „Goat Mountain“ [Suhrkamp] regelmäßig mitnehmen. Als der Junge jedoch statt seines ersten Hirschs, ohne mit der Wimper zu zucken einen Wilderer erschießt, bricht die epische Wunde der nordamerikanischen Ureinwohner auf psychodramatische Weise erneut auf. / Auf Heđin Brús Faröern hingegen ist es der Fortschritt, der den Alten die Heimat entreißt: Als Ketil nach dem Walfang im Überschwang ein viel zu großes Stück Fleisch ersteigert, steht die Ehre der Familie auf dem Spiel. Fortan sind „Vater und Sohn unterwegs“ [Guggolz], um auf archaische Weise der Technik die Stirn zu bieten und die Schulden zu tilgen.
Welche Heimat soll man da noch besingen? Sean Duffy fällt dazu in Adrian McKintys „Die verlorenen Schwestern“ [Suhrkamp] nichts ein. Nordirland, 1983: zerrissen, zerbombt, gefangen in seiner Geschichte. Ein Locked-Room-Rätsel wie der Fall selbst, für den der britische Security Service den abgesetzten Sergeant reaktiviert. Gut, das Geheimnis ist eine Herausforderung. Aber im Grunde pflügt der gekränkte Bulle nur durch seine heimatliche Vergangenheit, die dabei ist, sich selbst auszulöschen. / Eine archetypische Identität, die bei Moritz und Konsorten im heutigen Berlin keinen Platz mehr im Bewusstsein findet. Und das liegt nicht nur an den Drogen- und Partyexzessen. Wie in einer bipolaren Depression beamen sich Boris Pofallas Protas in „Low“ [MetroLit] durch ein sinnentleertes Außen, um irgendwie einen Funken Leidenschaft zu erhaschen. Nur in sich selber suchen sie nicht. / Wie eine Labsal erscheint da der Lynch‘sche Neo-Mystizismus in Tom Drurys „Das stille Land“ [Klett-Cotta]: Seelenverwandtschaft und -wanderung ohne esoterisches Pling-pling in modernem Western-Outfit. In Zeiten kultureller und materieller Auflösung wird die Seele zum einzig wahren Zuhause. Sie ist Heimat – oder Heimatlosigkeit.
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