Sie leben im Krankenhaus zwischen ständig piependen und pumpenden Maschinen, während andere Kinder über den Bolzplatz tollen, in die Schule gehen oder sich das erste mal verlieben. In Belgien ist es todkranken Kindern und Jugendlichen möglich, ihrem Leben mit ärztlicher Hilfe ein Ende zu setzen. Mit dem neuen Gesetz rüttelt Belgien an einem Tabu.
44 waren dagegen, ein Dutzend enthielt sich – und eine Mehrheit von 86 der Abgeordneten im belgischen Parlament sorgten dafür, dass das Gesetz im Februar beschlossen wurde. „Das Leiden kennt keine Altersgrenze“, sagte Hans Bonte von den belgischen Sozialisten. Doch können Kinder überhaupt schon eine so weitreichende und endgültige Entscheidung treffen? Belgische Kinderärzte, die das Gesetz befürworten, erklärten in einem offenen Brief, dass das Leiden die Kinder vorzeitig erwachsenen werden lasse. Dasselbe Leid solle ihnen dasselbe Recht auf Sterbehilfe ermöglichen, das volljährige Patienten in Belgien längst haben.
Es bleibt die Frage: Ab wann ist ein Mensch alt genug, um sich für seinen eigenen Tod zu entscheiden? Das Gesetz fordert die Einwilligung der Eltern, mehrerer Ärzte und ein psychologisches Gutachten, das den festen und vernünftigen Entschluss des Kindes bestätigt. Anschließend muss ein Kontrollausschuss aus Medizinern, Juristen und Ethikern zustimmen, dass dem jungen Patienten eine Spritze mit einem tödlichen Gift verabreicht werden darf. Ganz ohne Altersbeschränkung bleibt das Gesetz also nicht, auch wenn diese unkonkret bleibt: Denn ein Säugling oder Kleinkind verfügt noch nicht über die geistigen Fähigkeiten, die das Gesetz verlangt.
Die Gegner des Beschlusses, wie Christdemokraten und Vertreter der Kirchen, befürchten, dass das Gesetz zu einem Dammbruch und damit zum inflationären und allzu leichtfertigen Aufgeben eines jungen Lebens führen könnte. Die rechtspopulistische Partei „Vlaams Belang“ nutzte die Debatte, um Stimmung gegen die liberalere Konkurrenz zu machen und sich als Schutzpatron des Lebens zu stilisieren. Der Abgeordnete Bert Schoofs erklärte: „Der Vlaams Belang hat stets die größte Zurückhaltung an den Tag gelegt, wenn es darum geht, in das Leben einzugreifen. Sowohl am Beginn als auch am Ende des menschlichen Lebens.“ In der belgischen Bevölkerung findet das neue Gesetz große Zustimmung.
Ein Dammbruch sei nach Experteneinschätzung nicht zu erwarten. In den Niederlanden, wo es bereits seit einiger Zeit ein ähnliches Gesetz gibt, kommt es pro Jahr lediglich zu fünf bis zehn Fällen von Sterbehilfe bei Minderjährigen. „Die meisten Kinderärzte-Teams wurden in der Praxis noch nie mit dem Wunsch nach Sterbehilfe von einem Minderjährigen konfrontiert”, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung einer Gruppe von belgischen Kinderärzten.Die Möglichkeit, autonom über das eigene Leben zu entscheiden, ist somit nicht nur eine Gefahr für junges Leben – sondern eine Chance für junges, würdiges Sterben.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wie wollen wir sterben?
Die Debatte um die Sterbehilfe läuft – THEMA 12/14 LEBENSENDE
„Sterbehilfe ist kommerziell ausgerichtet“
Winfried Hardinghaus erklärt, warum Sterbebegleitung für ihn die bessere Alternative ist – Thema 12/14 Lebensende
Eine Ehre bis zum Schluss
Ehrenamtliche des Hospizdienstes „Lebenszeiten“ begleiten sterbende Menschen – Thema 12/14 Lebensende
„Der Tod ist eine Grundfreiheit“
Dieter Birnbacher von der deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) über Sterbehilfe – Thema 12/14 Lebensende
Ran an die Regeln
Intro – Verspielt
Das Spiel mit der Metapher
Teil 1: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 1: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
Zusammen und gegeneinander
Teil 1: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
Jenseits der Frauenrolle
Teil 2: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Werben fürs Sterben
Teil 3: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 3: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
Immer in Bewegung
Teil 3: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Wie gewohnt
Intro – Europa
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 1: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 1: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
Verbunden über Grenzen
Teil 1: Lokale Initiativen – Wuppertal und seine europäischen Partnerstädte
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
Zu Gast in Europas Hauptstadt
Teil 2: Lokale Initiativen – Die europäische Idee in Studium und Forschung an der Kölner Universität
Europäische Verheißung
Teil 3: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 3: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur