Ein Sprichwort lautet: „Der Tod macht alles gleich, er frisst arm und reich“. So funktionieren auch Krankheiten. Da erkranken Promis wie Tom Hanks und Prinz Charles genauso am Coronavirus wie die alte Frau nebenan. Doch während von der Krankheitsgefahr grundsätzlich niemand verschont bleibt, fällt die persönliche Belastung sehr unterschiedlich aus. Beispielsweise sind in den USA Afroamerikaner und Latinos besonders von Covid-19 betroffen. Häufig verlieren sie ihren Job, schlimmstenfalls auch ihre Wohnung oder sind aufgrund eines geringen Einkommens und schlechter Ernährung gesundheitlich nicht gut aufgestellt. In New York ist die Sterberate unter Schwarzen und Latinos doppelt so hoch wie unter Weißen.
Auch hierzulande gibt es soziale Ungleichheit, Regionen, in denen es den Menschen sehr gut geht und solche, die längst abgehängt sind. Letzteres gilt im Ruhrgebiet vor allem für Gelsenkirchen. Eine Studie kürte die Stadt zur ärmsten Kommune Deutschlands, jeder Vierte ist auf Hartz IV angewiesen. Die Gründe sind bekannt: Seit dem Ende der Schwerindustrie gingen über 80.000 Arbeitsplätze verloren, mit ihnen verschwanden die Menschen. Das Überangebot an Wohnraum hat indes zu einem steten Zuzug von wirtschaftlich schwachen Migranten geführt. Viertel verkommen, die Menschen fühlen sich vergessen. Die Enttäuschung ist an den Wahlergebnissen ablesbar: Ehemals SPD-Revier ist die Stadt nun AfD-Hochburg. Immer mehr Menschen machen den Waffenschein. Unter dem Niedergang leiden vor allem die Kinder. Bei den unter 15-Jährigen sind ganze 40 Prozent auf Hartz IV angewiesen. Hier hilft die Tafel, die in Gelsenkirchen auch eine Kindertafel eingerichtet hat. Die Initiative Pausenbrot etwa versorgt jene Kinder in Grund- und Förderschulen mit Frühstück, denen von zuhause nichts mitgegeben wird – in manchen Schulen bis zu 40 Prozent.
Im Zuwachs von Hilfsbedürftigen – mittlerweile nutzen 1,65 Millionen Deutsche das Angebot der Tafeln – sehen viele ein Versagen des Sozialstaats, der seine Verantwortung ans Ehrenamt abgibt. Jochen Brühl, Bundesvorsitzender des Tafel Deutschland e. V., fordert mehr Unterstützung von der Regierung, etwa bei der Grundfinanzierung der Lebensmittelrettung. Vor allem aber müsse sie die Armut bekämpfen. Denn die 60.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter der Tafel können nur unterstützen, nicht versorgen. Ihre Arbeit sähe Brühl gern durch Rentenpunkte für ehrenamtliches Engagement honoriert. Bisher hatte er mit dieser Idee keinen Erfolg. Dass Betrieben und Selbstständigen in der Corona-Krise Hilfen in Milliardenhöhe zugesagt wurden, sein Verein, der ebenfalls hart getroffen wird, hingegen leer ausgeht, versteht er nicht.
250 Tafeln haben ihren Dienst vorübergehend eingestellt, denn 90 Prozent der Mitarbeiter und ein Viertel der Kunden gehören zur Risikogruppe und müssen geschützt werden. Trotzdem sind die Schließungen für die Bedürftigen ein Desaster – nicht nur finanziell. Anders als wohlhabende Menschen haben sie keine Möglichkeiten, leichter durch die Krise zu kommen: ein Auto, um ins Grüne zu fahren, Freunde, die den Einkauf erledigen, Geld für Lieferdienste. Am schwierigsten, weiß Brühl, ist jedoch der fehlende Kontakt, denn die meisten kommen nicht nur wegen des warmen Essens, sondern wegen der menschlichen Nähe, der Möglichkeit, für kurze Zeit der Einsamkeit zu entfliehen. In Gelsenkirchen geht die Versorgung der mehreren hundert bedürftigen Familien und Alleinstehenden weiter.Nach der Corona-Krise werden es vermutlich noch mehr sein.
Hotspot NRW - Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: trailer-ruhr.de/thema und choices.de/thema
Aktiv im Thema
www.der-paritaetische.de | Der Paritätische Wohlfahrtsverband beobachtet seit jeher aufmerksam die Armutsentwicklung und kommentiert auch die Corona-Krise.
www.armut-gesundheit.de | Der Verein um den Arzt und Sozialpädagogen Gerhard Trabert vertritt die These, dass Armut krank und Krankheit arm macht.
www.planet-schule.de | Die Unbildung von heute erzeugt die Armut von morgen? WDR und SWR bieten in der Corona-Zeit multimediales Schulfernsehen.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@engels-kultur.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Systemfrage
Intro – Corona macht arm
„Die Armen bleiben auf der Strecke“
Tafelgründerin Sabine Werth über Corona und politische Maßnahmen
Fünf Welten, ein Virus
Warum es auf den Standpunkt ankommt – Glosse
„Mehr als nur Essensverteilung“
Johanna Thomé und Dean Blažević bringen Mahlzeiten direkt zu Obdachlosen
Lebensmittel und Menschen retten
Die Wuppertaler Tafel hilft seit 25 Jahren
Grundeinkommen light
Armutsbekämpfung auch nach Corona? – Europa-Vorbild: Spanien
Wie die AfD stoppen?
Teil 1: Leitartikel – Plädoyer für eine an den Bedürfnissen der Mehrheit orientierte Politik
Keine Panik!
Teil 2: Leitartikel – Angst als stotternder Motor der Vernunft
Angst über Generationen
Teil 3: Leitartikel – Wie Weltgeschehen und Alltag unsere Sorgen prägen
Ist Schönheit egal?
Teil 1: Leitartikel – Zwischen Body Positivity und Body Neutrality
Im Namen der Schönheit
Teil 2: Leitartikel – Über körperliche Wunschbilder und fragwürdige Operationen
11 Millionen Eitelkeiten
Teil 3: Leitartikel – Fitnessstudios: zwischen Gesundheitstempeln, Muckibuden, Selbstverliebtheiten und Selbstgeißelung?
Armut ist materiell
Teil 1: Leitartikel – Die Theorie des Klassismus verkennt die Ursachen sozialer Ungerechtigkeit und ihre Therapie
Allergisch gegen Allergiker
Teil 2: Leitartikel – Für gegenseitige Rücksichtnahme im Gesellschaftsbund
Ungeschönte Wahrheiten
Teil 3: Leitartikel – Rücksicht zu nehmen darf nicht bedeuten, dem Publikum Urteilskraft abzusprechen
Wem glauben wir?
Teil 1: Leitartikel – Von der Freiheit der Medien und ihres Publikums
Demokratische Demut, bitte!
Teil 2: Leitartikel – In Berlin versucht der Senat, einen eindeutigen Volksentscheid zu sabotieren
Bröckelndes Fundament
Teil 3: Leitartikel – Was in Demokratien schief läuft
Wo komm ich her, wo will ich hin?
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch zwischen Prägung und Selbstreifung
Es ist nicht die Natur, Dummkopf!
Teil 2: Leitartikel – Es ist pure Ideologie, unsere Wirtschafts- und Sozialordnung als etwas Natürliches auszugeben
Man gönnt anderen ja sonst nichts
Teil 3: Leitartikel – Zur Weihnachtszeit treten die Widersprüche unseres Wohlstands offen zutage
Wessen Freund und Helfer?
Teil 1: Leitartikel – Viele Menschen misstrauen der Polizei – aus guten Gründen!
Missratenes Kind des Kalten Krieges
Teil 2: Leitartikel – Die Sehschwäche des Verfassungsschutzes auf dem rechten Auge ist Legende
Generalverdacht
Teil 3: Leitartikel – Die Bundeswehr und ihr demokratisches Fundament