„Geht mal nach Wuppertal, da wird die beste Arbeit gemacht“, hieß es. Andere Stimmen waren zu hören, die behaupteten, in Wuppertal sei man „gar keine richtige Tafel“, sondern ein „Vollangebot“. Wolfgang Nielsen, früher Ländervertreter der Tafeln NRW, erinnert sich gut an die kleine Meinungsverschiedenheit unter „Tafelianern“ in Berlin. Mit dem Begriff „Vollangebot“ sei gemeint, dass man weit über das Abholen von Lebensmitteln und deren Verteilung an Bedürftige hinausgehe: Stolz erzählt Nielsen, der Vorsitzende der Wuppertaler Tafel, man biete Küche, Kantine, Sozialkaufhaus, Büchermarkt, Kindertafel und Kinderboutique. Das wichtigste ist ihm jedoch das „Medi-Mobil“, ein alter Krankenwagen, der der Tafel geschenkt worden war: „Wir fahren damit jeden Donnerstag raus auf die Platte – allerdings nicht zu Corona-Zeiten – und leisten medizinische Hilfe an Menschen, die draußen sind und oft offene Wunden haben.“
Nielsen ist bewusst, dass der gemeinnützige Verein das alles alleine nicht ermöglichen könnte und daher voll des Lobes über das soziale Engagement: „Dass wir so groß sind, heißt nicht, dass wir so viel Armut haben, sondern, dass wir Menschen haben, die etwas dagegen tun wollen. Wir verdanken es den Wuppertalern, den Sponsoren und den Ehrenamtlichen, die bereit sind, was für ihre Stadt zu tun. Es wird hier verdammt viel gute Arbeit geleistet.“ Gleichzeitig findet er, dass diese Arbeit eigentlich nicht nötig sein sollte: „Es dürfte keine Tafeln geben müssen. Der Staat müsste dafür sorgen, dass alle Leute zurechtkommen.“
Die Geschichte der Tafeln beginnt 1993. Damals hatten Berliner Frauen, nach dem Vorbild des Projektes „City Harvest“ aus New York, die erste Tafel gegründet. Nachdem es in weiteren deutschen Städten erste Nachahmer gab, folgte Anfang 1995 Wuppertal: „Wir stehen in der Reihenfolge der Gründungen an zehnter Stelle“, weiß der 1950 in Berlin geborene, aber seit 1960 in Wuppertal lebende Nielsen, der bereits ab 1988 mit seinem Verein „Allgemeiner Hilfskreis“ Bedürftige mit Kleidung und Hausrat versorgt hatte: „Ich fand die Idee genial, Lebensmittel, die zu viel produziert wurden oder vor dem Verfallen standen, nicht zu entsorgen, sondern einzusammeln und denen zu geben, die wenig oder nichts haben.“ Mit diesem „Lebensmittelretter-Gedanken“ seien die Tafeln in den 1990ern rasant gewachsen und zur „größten sozialen Bewegung“ geworden. Tatsächlich gibt es deutschlandweit mittlerweile knapp 950 Tafeln. Und Nielsen ist „froh, einen Teil dazu beigetragen zu haben: Wenn ich helfen kann, dann gibt mir das was Gutes.“
Nun stellt jedoch die Covid-19-Pandemie auch die Tafel vor Probleme: Die Essensverteilungsstellen an der Platte am Hauptbahnhof, am Rathaus Barmen, in Oberbarmen und in Wichlinghausen können zurzeit noch nicht wieder angefahren werden. Das Problem sei, dass die nötigen Abstände nicht eingehalten würden. Inzwischen springt aber ein Wuppertaler Geschwisterpaar ein, das die einzelnen Obdachlosen direkt aufsucht. Nielsen ist begeistert: „Anfang der Corona-Zeit rief Johanna an und erzählte, dass sie mit ihrem Bruder auf Lastenfahrrädern Obdachlosen etwas zu Essen bringen will. Das ist einfach genial. Die zwei haben eine Auszeichnung verdient.“
Ende April gab es ein weiteres Problem: Aus einem Lagerraum wurden der Tafel 8.800 Schutzmasken gestohlen. Doch die spontane Solidarität war riesig: Nielsen ist dankbar: „Noch an dem Tag, an dem wir das gemeldet haben, hat uns ‚Meinfoto‘ aus Köln 10.000 Masken geschenkt. Auch andere Unternehmen wollten helfen. Insgesamt hätten wir 70.000 bekommen können.“
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