Schon einmal stand ein Streik bei Ford Pate für ein Musical: 2014 wurde in London „Made in Dagenham“ uraufgeführt, in dessen Mittelpunkt die Nähmaschinen-Arbeiterinnen des Werkes standen. Sie streikten 1968 für bessere Arbeitsbedingungen und gleiche Löhne. Nun erinnern uns die Musiker und Schauspieler des Kölner Sanat Ensembles an ein vergessenes Kapitel der deutschen Demokratie- und Migrationsgeschichte: den sogenannten Wilden Streik im Kölner Ford-Werk 1973. Rund 12.000 Gastarbeiter:innen und 500 solidarische, deutsche Kolleg:innen legten damals die Arbeit nieder. Das charismatische Gesicht des Streiks war Baha Targün, der dem Musical auch seinen Titel gab.
Mit einem Musical hat die Produktion allerdings wenig gemein: Sie wirkt eher wie die konzertante Aufführung eines Werks in Arbeit, ist mehr politisches Agitprop-Theater mit musikalischen Einlagen. Der Autor und Komponist des Stückes, Nedim Hazar, hat auch die Rolle des Erzählers übernommen, führt durchs Geschehen und bindet auch ehemalige „Fordianer“ als Zeitzeug:innen in die Geschichte ein.
„Eine Mark mehr für alle“, heißt es im Titelsong, den Hazars Sohn, der Rapper Eko Fresh, beigesteuert hat. Die Lieder seines Vaters atmen dagegen den Rock-Sound der 70er-Jahre, lassen Einflüsse von Janis Joplin, Ton Steine Scherben, aber auch der anatolischen Volksmusik erkennen. Zaghaft versucht man deshalb auch mal ein Ensemble-Tänzchen, was aber wegen fehlender Choreografie eher unbeholfen wirkt. Dafür überzeugen die aus der freien Kölner Theaterszene stammenden Schauspieler:innen: Aydin Isik verleiht der Titelfigur des Baha Targün jenes Charisma, das damals den Streikführer auszeichnete. Vor allem brilliert er im Zusammenspiel mit seiner jugoslawischen Arbeitskollegin Lucy, der Mirjam Radovic gesanglich und schauspielerisch eine quirlige Bühnenpräsenz verleiht. Der auf vielen Bühnen gestählte Richard Hucke macht als deutscher Arbeiter genauso eine gute Figur im Blaumann wie Burçin Keskin. Zudem überzeugen beide mit ihren ausdrucksstarken Stimmen.
Baha und die wilden 70er | 4., 5., 6.11. 20 Uhr | Comedia Theater Köln | 0221 88 87 72 22
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