Das Portrait des Bundespräsidenten lehnt an der Wand. „Wir haben noch kein Loch in den harten Beton bohren können“, entschuldigt sich Rupert Koch, Leiter der Jugendvollzugsanstalt Wuppertal-Ronsdorf für den nicht ganz staatstragenden Umgang mit dem gerahmten Foto. So muss Herr Wulff von der Fußbodenleiste aus in das Besprechungszimmer lächeln. Nicht nur wegen der harten Mauern gilt das neue Gefängnis als völlig ausbruchssicher. Schon wenn man sich von außen nähert, wähnt man sich in die Zeit, als zwischen West- und Ostberlin noch eine Mauer stand. Wie eine kleine DDR sieht der riesige Gebäudekomplex aus, der in zwei Jahren Bauzeit in die Landschaft gerammt worden ist. Die Sicherheit der Bevölkerung, so wird dem Besucher schnell klar, ist nicht gefährdet. Vor einigen Monaten haben sich einige SEK-Beamte daran gemacht, die Mauer zu überwinden – probehalber. Mit Spezialanzügen und Wolldecken benötigten sie über 20 Minuten, bevor sie die NATO-Rollen in schwindelerregender Höhe mit einer Mischung aus Akrobatik und Muskelkraft überwunden hatten. So viel Zeit bleibt einem gemeinen Ausbrecher nicht. Überall wachen motorisierte Kameras. Ein Streifenwagen fährt Patrouille. Die Wuppertaler und besonders die Ronsdorfer scheinen sich nach anfänglichen Protesten mit ihrer neuen Haftanstalt abgefunden oder sogar angefreundet zu haben. Beim Tag der offenen Gefängnistür am 16. Juli kamen rund 7.500 Besucher. Man hatte mit etwa tausend Interessenten gerechnet und musste die vorbereitete Gulaschsuppe schnell noch strecken. Ohnehin galt der Protest der Bürgerinitiative Freies Scharpenacken eher ökologischen Fragen. Statt in einem Landschaftsschutzgebiet hätte man die Anstalt auch in bereits bewohntem Terrain ansiedeln können, so die Kritiker. Aber für die damalige schwarz-gelbe Landesregierung war durch den Skandal um die JVA Siegburg, bei der ein Häftling von seinen Zellengenossen zu Tode gequält wurde, promptes Handeln entscheidend. Nicht nur die Sicherheit der Bevölkerung, sondern auch die der Häftlinge war plötzlich wichtig. Um die katastrophale Überbelegung der Anstalten zu beenden und maximal zwei Häftlinge in einer Zelle unterzubringen, musste schnell ein Neubau her.
Ein Jahr Einsitzen reicht nicht für eine Berufs- oder Schulausbildung
Stolz präsentiert ein Vollzugsbeamter nun dem Pressevertreter die gerade fertiggestellte Immobilie. Zwei unterirdische Gänge führen von außen in den Sicherheitsbereich. Dutzende von schweren Stahltüren müssen aufgeschlossen werden, bis man in eine noch unbelegte Zelle kommt. Studentenwohnheime bieten zuweilen ähnlichen Komfort. Einige Zellen allerdings sind merklich spärlicher ausgestattet, ohne Trennwand vor der Toilette, mit gemauertem Sockel als Schlafstelle und unkaputtbarem Waschbecken aus Edelstahl. „Unruhige Häftlinge können hier für einige Zeit untergebracht werden“, erklärt der Beamte. Neu an der Jugendvollzugsanstalt sind einige Extras. Es gibt keine Gemeinschaftsduschen mehr, weil dort oft ein mindestens ruppiges Klima herrschte. Die Zellen sind so angeordnet, dass Wohngruppen gebildet werden. Tagsüber können sich die Häftlinge besuchen, wenn die Zellentüren aufgeschlossen sind. Gemeinsam kann in einer kleinen Küche gekocht werden. Zwei Gruppenräume ermöglichen den sozialen Kontakt untereinander. In den Werkstätten, die in separaten Hallen untergebracht sind, können Berufsausbildungen begonnen werden. In sehr freundlich eingerichteten Klassenzimmern drücken viele Häftlinge die Schulbank, um fehlende Abschlüsse nachzuholen. Noch sind viele Gebäude ungenutzt. Erst nach und nach werden Häftlinge aus anderen JVAs nach Ronsdorf verlegt. Erst die Praxis wird dann zeigen, wie innovativ der neue Jugendstrafvollzug ist.
Im Gegensatz zu den alten Gefängnissen in NRW, die manchmal schon über hundert Jahre alt sind, wirkt der Komplex in Ronsdorf sehr modern. Aber entspricht er auch den Forderungen, die Sozialwissenschaftler an einen zeitgemäßen Jugendstrafvollzug stellen? In der Fachwelt hat sich, ganz im Gegensatz zu den Positionen der Boulevard-Medien und der Stammtische, die Meinung verfestigt, dass gerade im Jugendstrafvollzug weder Rache, Sühne oder Abschreckung eine große Rolle spielen sollten. Wichtig sei bei jugendlichen Straftätern hingegen Sozialtraining, Berufsausbildung, die allgemeine Schaffung von Lebensperspektiven. Hierfür allerdings, und das mag zunächst paradox wirken, sind die verhängten Haftstrafen in der Regel nicht lang genug. Durchschnittlich sitzt ein jugendlicher Delinquent ein Jahr in Haft. Das reicht weder für eine Berufs- oder Schulausbildung noch für das Erlernen neuer Verhaltensweisen in sozialen Trainingsmaßnahmen. So stellen sich Fragen, die allerdings nicht in Ronsdorf, sondern in Düsseldorf und Berlin beantwortet werden müssten: Bräuchten wir nicht längere Haftzeiten und dafür offenere Vollzugseinrichtungen? Bräuchten wir nicht mehr Personal und weniger Beton? Nicht ganz so harte Wände würden letztlich auch unserem Bundespräsidenten helfen, in Ronsdorf den ihm gebührenden Platz einzunehmen.
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