Die Simulation erinnert an Blutkörperchen, die ihren Weg durch schmale Gefäße suchen. Doch der Eindruck trügt: Nicht stark vergrößert, sondern verkleinert ist das Dargestellte. Die sechs Videofilme, die von der Stadt Wuppertal auf ihrer Internetseite zur Bürgerbeteiligung am Umbau des Döppersbergs präsentiert werden, sollen ein hypothetisches Abbild der Situation sein, wenn voraussichtlich in diesem Sommer die B7 in Elberfeld gesperrt wird. Winzige Gelenkbusse schlängeln sich durch dünne Röhrchen. Aber ist diese Vision realistisch? Droht nicht der Verkehrsinfarkt, wenn die Hauptverkehrsstraße für mehrere Jahre an zentralster Stelle gesperrt wird? Die Einzelhändler von Elberfeld liefen Sturm gegen die Planung der Stadtverwaltung, als diese bekannt wurde. Starke Umsatzeinbußen befürchten die Geschäfte der City durch den Umbau am Hauptbahnhof. Tatsächlich fühlten sich manche alten Wuppertaler nach Bekanntwerden der Pläne an den Film „Der Blaumilchkanal“ von Ephraim Kishon erinnert. In dem Streifen von 1969 bricht ein geistig verwirrter Mann aus einer Anstalt aus, bemächtigt sich eines Presslufthammers und reißt die Hauptverkehrsstraße von Tel Aviv auf. Die Stadtverwaltung reagiert prompt, indem sie dem Bohrenden zur Verstärkung Bautrupps zur Seite stellen, damit die Bauarbeiten zügig vorankommen können. Erst später bemerkt man im Rathaus, dass für jene Baumaßnahme überhaupt keine Pläne existieren. In Wuppertal ist natürlich alles ganz anders. Zwar hat die Verwaltung tatsächlich erst recht spät über die Vollsperrung informiert, vergeblich wird aber der Baggereinsatz im Bergischen Land nicht sein. Schließlich soll nicht weniger als ein repräsentativer Stadtkern entstehen.
Vielleicht hat der radikale Schritt der Verkehrspolitiker sogar eine gute Seite. Zwangsläufig werden wir uns - und zwangsläufig ist auch im unmittelbaren Wortsinn gemeint - zumindest partiell vom Auto verabschieden müssen. Wer am späten Nachmittag jemals die Bundesallee befahren hat, weiß, dass diese Mengen an Autos niemals von den wenigen Parallelstraßen bewältigt werden können. Unabhängig von der aktuellen Situation am Döppersberg hat das Wuppertalinstitut bereits 2012 seine Studie LOW CARBON CITY WUPPERTAL 2050 vorgelegt. Ehrgeiziges Ziel der Autoren ist es, bis zur Mitte des Jahrhunderts den städtischen Verkehr ganz ohne die Emission von Kohlendioxyd zu ermöglichen. Und bei dieser Vision spielt das Auto nur noch eine marginale Rolle. Spannend an der Studie ist, dass sie sehr wohl die schwierige Situation der schrumpfenden, finanziell notleidenden Stadt berücksichtigt. Die schrumpfende Stadt bietet bei entsprechender Stadtplanung die Möglichkeit, dass Menschen näher zusammenrücken, auch näher zu ihrer Arbeitsstelle ziehen können, und so Wege vermieden werden. Auch finanziell soll, so die Studie, ein Umstieg vom Benzinfresser zum elektrisch betriebenen, öffentlichen Verkehrsmittel, für Bürger und Stadtverwaltung eine Win-Win-Situation sein. Autofahren soll durch Steuern und Parkgebühren massiv verteuert werden. Diese Mittel könnten zum Ausbau des schon recht passablen öffentlichen Nahverkehrsnetzes eingesetzt werden. Die Studie fordert zudem ein Bürgerticket, also den Nulltarif für Busse und Bahnen im Stadtgebiet. Auch ein flächendeckendes Tempolimit von 30 km/h wird von den Autoren propagiert. Dieses Tempolimit würde nicht nur die Autofahrer bewegen Alternativen zu suchen, es gäbe weniger Tote und Verletzte gerade bei Kindern und Senioren zu beklagen, es würde weniger Lärm produziert und es würden Energieeinsparungen möglich sein. Ist das Auto nur noch so schnell wie das Fahrrad, wäre ein Umstieg attraktiv. Große Chancen sieht die Studie in der Nutzung von elektrisch betriebenen Fahrrädern. Mit einem Pedelec kann man mühelos selbst die steilsten Straßen der Stadt bewältigen. Zwar werden immer mehr dieser Elektrofahrräder verkauft, wichtig wäre aber auch die Bereitstellung an Verleihstationen. Die letzten Kilometer von der Busstation bis zum ländlich gelegenen Häuschen könnten so mühelos bewältigt werden. Und wer jemals auf einem geliehenen Pedelec saß, kauft sich bald auch eines, so die Annahme der Studie. Die nahezu autofreie Stadt scheint also zumindest in den Köpfen der Wissenschaftler des Wuppertal-Instituts zu funktionieren. Nur noch 20 Prozent aller Wege würden mit dem PKW zurückgelegt werden. Und diese Zahl, so die Studie, sei nur so hoch, weil man bundes- und landespolitische Maßnahmen, die ebenfalls zur Reduktion des Autoverkehrs betragen könnten, in die Berechnungen nicht mit einbezogen habe.
Bleibt natürlich die Frage, ob sich unsere Stadt tatsächlich für jenen ambitionierten Weg entscheidet. Welche Therapie ist gegen einen drohenden Infarkt richtig? In der Schulmedizin wird ein Bypass empfohlen. Weitere Straßen können tatsächlich zumindest kurzfristig für Entlastung der verstopften Verkehrswege suchen. Naturheilkundler empfehlen bei Infarktgefahr eine gesündere schadstoffärmere Ernährung, mehr Bewegung und blutdrucksenkende Maßnahmen. Das Qualmen sollte der Patient lassen. Übertragen auf das Verkehrssystem klingen jene Ratschläge wie die Forderungen des Wuppertal-Instituts. Und was macht Herr Blaumilch? Nachdem die Hauptverkehrsstraße zu einem Kanal umgebaut wurde, fängt er an der nächsten großen Kreuzung wieder an, zu bohren.
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