Die deutsche Schulbildung ist schlecht, schlechter, am schlechtesten. Mit dieser Kernaussage schockte zur Jahrtausendwende PISA, die offizielle Schulleistungsuntersuchung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD, die hiesige Öffentlichkeit. In Naturwissenschaften und Mathematik belegte Deutschland damals nur einen mickrigen 20. Platz im internationalen Vergleich.
Bei der Lesefähigkeit schafften es die Dichter und Denker sogar nur auf Platz 21 – weit abgeschlagen hinter Finnland, Kanada und Japan. Ein Grund für die Bildungsmisere war schnell gefunden. Nirgendwo gehen Oberschüler länger zur Schule als in Deutschland. Es klingt zwar paradox, dass längerer Schulbesuch zu schlechteren Leistungen führt, war aber zumindest unter konservativen und liberalen Bildungspolitikern Konsens. Auch andere Argumente sprachen für die Einführung des sogenannten Turbo-Abiturs. Will man ein vereintes Europa, müssen sich langfristig die Bildungssysteme angleichen. Nur wenn die Abschlüsse vergleichbar sind, können junge Menschen massenhaft in ganz Europa studieren und arbeiten. In anderen Ländern der Europäischen Union ticken die Uhren aber anders. Die Oberschule vermittelt ein solides Grundwissen, Spezialisierungen erfolgen im Bachelor-Studium. Während hierzulande Gymnasiasten in der Breite u.a. das Große Latinum machten, Probleme der Teilchenphysik lösten und über die Wirkung des Absurden Theaters diskutierten, hatten in unseren Nachbarländern die jungen Leute schon ihre Berufswahl getroffen und studierten in den von ihnen gewünschten Fächern.
Im Jahr 2005 führte die damalige schwarz-gelbe Landesregierung eine Schulreform durch. Gymnasiasten sollten nur noch acht statt neun Jahre zur Schule gehen. Trotz vieler Widerstände von Seiten der organisierten Schülerschaft, Elternschaft, Lehrerschaft und auch von Teilen der wissenschaftlichen Fachwelt wurde das Turbo-Abi eingeführt. In diesem Herbst suchen nun infolge der doppelten Abiturjahrgänge doppelt so viele Gymnasiasten einen Ausbildungs- oder Studienplatz wie in vergangenen Jahren. Für die Wuppertaler Abiturienten stellt sich nun die Frage: Habe ich auf dem heiß umkämpften Markt überhaupt eine Chance? Und für die Bergische Universität stellt sich die Frage: Können wir den Ansturm überhaupt bewältigen? Letztere beantwortet Hochschulrektor Lambert Koch positiv. Durch massive Neuanstellungen und Neubauten, ein gerade fertiggestelltes Hörsaalgebäude, die Aufstockung der Bibliothek und die Erweiterung der Mensa sei der Ansturm auf die Bergische Universität zu bewältigen. Ganz anders sieht das Andrea Lehmann vom AStA. Sowohl die Mensa wie auch die Busverbindungen zwischen Hauptbahnhof und Universität seien schon in den vergangenen Jahren hoffnungslos überlastet gewesen. „Besonders zu Beginn des Semesters werden diese strukturellen Probleme dazu führen, dass ein reibungsloser Universitätsalltag schwerlich zu gewährleisten ist“, so Andrea Lehmann.
Andere Universitäten und ihre BewerberInnen haben allerdings größere Probleme. In Düsseldorf, Münster und Aachen ist es für normale Arbeitnehmer bereits schwer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Damit der Studierende, der ungleich weniger Geld zur Verfügung hat, seine Laufbahn nicht gleich als Nichtsesshafter startet, wird an jenen Uni-Standorten verzweifelt nach Obdach für die Erstsemester gesucht. Kasernen sollen umgebaut werden. Manche Hochschulen appellieren an die Bevölkerung, doch bitte ein kleines Zimmer in der eigenen Wohnung Studierenden zur Verfügung zu stellen. Diese Probleme hat Wuppertal in dieser Schärfe nicht. Zum einen gibt es an der Bergischen Universität viele Pendler, die noch bei den Eltern wohnen. Zum anderen ist der Wohnungsmarkt nicht so überlaufen.
Vor allem Real- und Hauptschüler werden unter der Schulreform leiden
Wie aber sieht außerhalb von Wuppertal die Studienplatz-Situation aus? Hermann Lamberty, Pressesprecher des Wissenschaftsministeriums in Düsseldorf, gibt Entwarnung. Er rechnet nur mit einer 20-prozentigen Steigerung der Erstsemesterzahlen an den Hochschulen in NRW. 10 Milliarden Euro von Bund und Land werden bis 2020 in den Ausbau der nordrhein-westfälischen Hochschulen investiert sein. „Nahezu auf jedem Campus steht ein Bagger“, weiß Lamberty zu berichten. Die Hochschulen seien solide vorbereitet.
Was aber können junge Menschen machen, die keinen Studienplatz bekommen? Der Ausbildungsmarkt ist überlaufen. In einigen Ausbildungsberufen wird inzwischen das Abitur vorausgesetzt. So ist damit zu rechnen, dass vor allem Realschüler und Hauptschüler unter der Schulreform von vor acht Jahren leiden müssen. Abiturienten, die weder einen Studien- noch einen Ausbildungsplatz bekommen konnten, bleiben hingegen noch andere Möglichkeiten. Kinder reicher Eltern können ihr Glück in einem Auslandsstudium suchen. Manche – nicht nur Mädchen – werden Au pairs. Freiwilliges Soziales und Ökologisches Jahr und auch der alternativ zum Zivildienst eingeführte Bundesfreiwilligendienst bieten weitere Möglichkeiten, die Abiturientenschwemme umzuleiten. Manche werden als Wartezeit aber auch den bequemsten Ort wählen: das elterliche Sofa. In jenem Fall zumindest hätte das Turbo-Abi seinen Zweck nicht erfüllt.
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