Wer etwas über die Erbarmungslosigkeit des heutigen Arbeitsmarkts erfahren will, muss sich einmal mit den Schicksalen der Menschen beschäftigen, die nach langer Arbeitslosigkeit als Minijobber beim Bau und Betrieb der Wuppertaler Nordbahntrasse beschäftigt sind. Der sogenannte zweite Arbeitsmarkt. Da ist der ehemalige Bauunternehmer, dessen Traditionsunternehmen aufgrund unbezahlter Rechnungen seiner Kunden Pleite ging. Der Dachdecker mit 20-jähriger Berufserfahrung, der sich einer Operation unterziehen musste und daraufhin von seiner Firma entlassen wurde. Oder die gelernte Einzelhandelskauffrau, deren beruflicher Neubeginn als Landschaftsgärtnerin scheiterte, weil ihr neuer Arbeitgeber insolvent wurde.
Plötzlich waren sie zu alt, hatten keinen oder nicht den passenden Abschluss oder waren einfach bereits zu viele Jahre arbeitslos. Die Konsequenz: Als Hartz-IV-Empfänger waren sie nicht nur am unteren Ende der sozialen Skala angekommen. Auch die Perspektiven für die Zukunft erschienen wenig hoffnungsvoll.
Die treibenden Kräfte hinter der Integration des zweiten Arbeitsmarkts im Zuge des Projekts Nordbahntrasse, allen voran das gemeinnützige Wichernhaus, betonen deshalb vor allem die Chancen, die sich für die Beschäftigten des zweiten Arbeitsmarkts im Zuge ihrer Tätigkeit auf der Nordbahntrasse ergeben. Dort, so die Initiatoren, haben sie nicht nur als Ein-Euro-Jobber Tätigkeiten wie das Roden der Böschungen übernommen, sondern auch die Möglichkeit zu umfangreichen Schulungen erhalten. Ein entscheidender Schritt auf dem Weg zurück zu einer sozialversicherungspflichtigen Stelle. Für das Wichernhaus ist diese „Brücke in den ersten Arbeitsmarkt“ ein großer Erfolg. Von 68 Beschäftigten im Jahr 2002 sind inzwischen etwa 400 Mitarbeiter über das Wichernhaus eingestellt.
Wobei man diese Zahlen auch als Kritik lesen kann: Gehen die Ein-Euro-Jobs nicht zu Lasten von Vollzeitstellen? Ist es nicht schäbig, Menschen mit jahrzehntelanger Berufserfahrung 1,50 Euro die Stunde zu bezahlen? Und überhaupt: Dienen die Maßnahmen nicht vor allem zum Beschönigen der Arbeitslosenstatistik? Im Umfeld der Nordbahntrasse betont man, dass der Großteil der erteilten Aufträge an Mittelständler vor Ort gegangen sei, die Maßnahmen also Langzeitarbeitslosen und regionalen Betrieben gleichermaßen geholfen haben.
In Wuppertal jedenfalls haben Stadt und soziale Träger viele weitere Projekte ausgemacht, in denen der Einsatz von Menschen aus dem zweiten Arbeitsmarkt sinnvoll sein könnte: Die Sanierung der maroden Treppen, der Aufbau von Weihnachtsmarktbuden und der Betrieb des neuen Radhauses am Döppersberg. Ob sich dadurch das strukturelle Problem lösen lässt, dass die Gesellschaft immer weniger Chancen für diejenigen bietet, die despektierlich als „Geringqualifizierte“ bezeichnet werden, sei dahin gestellt. Perspektiven für den Einzelnen öffnen diese Projekte aber durchaus.
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