24 Wochen
Deutschland 2016, Laufzeit: 102 Min., FSK 12
Regie: Anne Zohra Berrached
Darsteller: Julia Jentsch, Bjarne Mädel, Emilia Pieske
>> www.24wochen.de/
Drama über eine zermürbende Entscheidungsfindung
Kein Richtig, kein Falsch
„24 Wochen“ von Anne Zohra Berrached
Wenn man heutzutage verkündet, man sei schwanger, dann wird man angeschaut, als würde man nach Nordkorea ziehen! Astrid (Julia Jentsch) ist sichtlich schwanger, und sie kokettiert damit auf der Stand-Up-Bühne. Frech und mit Berliner Schnauze. Ihr Partner Markus (Bjarne Mädel) unterstützt die aufstrebende Komödiantin gemeinsam mit ihrer Mutter hinter der Bühne. Daheim freut sich die neunjährige Tochter Nele auf das Geschwisterchen. Der Routinebesuch bei der Frauenärztin aber wirft die Familie aus der Bahn: Das Ungeborene, so lautet die Diagnose, wird voraussichtlich mit Trisomie 21 geboren. In einem solchen Fall ist eine Spätabtreibung möglich. Während der Fötus heranwächst, begeben sich Astrid und Markus auf Entscheidungsfindung. Regisseurin Anne Zohra Berrached begleitet ihre zwei Protagonisten auf diesem Weg.
Errungenschaft und Bürde
Der technische Fortschritt ermöglicht heute die Früherkennung vieler Krankheiten oder Behinderungen bereits im Mutterleib. Anders als bei der Abtreibung gesunder Kinder, die bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erfolgen muss, darf eine Mutter ein krankes oder behindertes Kind in Deutschland bis kurz vor der Geburt abtreiben. Da ein Ungeborenes etwa ab der 24. Woche jenseits des Mutterleibs überlebensfähig ist, wird es im Falle einer Spätabtreibung vorgeburtlich mittels einer Injektion getötet und kommt als Totgeburt zur Welt. 90 Prozent der Mütter, deren Kind eine Behinderung aufweisen, entscheiden sich für eine Abtreibung nach der zwölften Woche. Das klingt nach einer klaren Linie. Selten aber ist es eine klare Entscheidung. Anne Zohra Berrached interessiert sich für die Entscheidungsfaktoren. Für das Dilemma, in dem sich betroffene Eltern befinden, die sich zwischen dem Recht auf Leben und dem Recht auf Selbstbestimmung bewegen. Die Entscheidungshilfe suchen im persönlichen Umfeld und in der Beratung. Im Austausch mit der engsten Familie und mit dem Partner – die Meinungen ausgesetzt sind und einer Entscheidung um Leben und Tod. Eine Entscheidung, die, trotz umfangreichen Austauschs, vor allem eine sehr einsame ist. Die Entscheidungsfreiheit, die gesellschaftlich erkämpft wurde, erweist sich als wichtige Errungenschaft. Und für die Betroffenen zugleich als große Bürde.
Berrached hat im Vorfeld betroffene Paare interviewt und mit Medizinern und Hebammen gesprochen. Daraus entstanden ihre Figuren. Das Drehbuch diente bloß als Gerüst und Stichwortgeber. Fachärzte, Hebammen und Sozialarbeiter werden nicht von Schauspielern, sondern von echten Fachärzten, Hebammen und Sozialarbeitern verkörpert. Die Darsteller improvisierten sich durch vorgegebene Begegnungen, der Kamera wurde großmöglichste Bewegungsfreiheit ermöglicht. So entstanden intensive Szenen, die am Ende zu diesem Drama montiert wurden. Die Regisseurin bezeichnet ihren Film als „Collage“. Eine Collage, die schmerzhaft gefüllt ist mit Fragezeichen, weil es kein richtig oder falsch gibt, sondern bloß einen zermürbenden Weg zu einer Entscheidung, der gezeichnet ist von Zuversicht, Angst, Zerrissenheit und dem Gefühl schwerer Schuld. Immer wieder verlässt der Film brisante Szenen und Dialoge ganz unvermittelt. Nicht nur, weil er sich als Collage versteht, sondern weil er damit auch inszenatorisch den Konflikt spiegelt: Das Dilemma der Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Die Überforderung. Die Ohnmacht. Zugleich gelingt es Berrached, die mannigfachen intensiven Szenen durch dezenten Musikeinsatz und Ruhepole filmisch souverän und berührend zu verflechten. „24 Wochen“ ergreift in allen Belangen. Das ist nicht zuletzt der bewährt überzeugend aufspielenden Julia Jentsch („Die fetten Jahre sind vorbei“, „Schneeland“) zu verdanken, die sich hier durch eine emotionale Odyssee kämpft. Und Bjarne Mädel („Stromberg“, „Tatortreiniger“, „Mord mit Aussicht“), der seine wahre darstellerische Fallhöhe nun endlich auch auf der Leinwand beweisen darf. Auch die kleine Nele ist mit Emilia Pieske hervorragend besetzt, keine Selbstverständlichkeit bei Kinderdarstellern im deutschen Film.
Plädoyer für die Entscheidungsfreiheit
In einem berührenden Gespräch mit Astrid sagt die Hebamme: „Diese Entscheidung können wir nur treffen, wenn wir sie treffen müssen.“ Sprich, wenn wir selbst in dieser Situation stecken. Darum geht es. Anne Zohra Berrached hat das Schicksal ihrer Protagonistin nicht persönlich erlebt, und zugleich wirkt ihr Drama in keiner Sekunde verfehlt noch anmaßend. Ihr Film ist kein Plädoyer für oder gegen die Spätabtreibung. Er ist ein Plädoyer für die Autonomie und Entscheidungsfreiheit jener Menschen, die sich in einer solchen Lage befinden. Für Empathie und Respekt, egal, wofür sich das Paar oder die Mutter entscheidet. „24 Wochen“ ist ein relevanter Film über ein relevantes Thema. Und über eine schwere, einsame Entscheidung.
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